Human Writes Table Dance

VON Dr. Wolf SiegertZUM Samstag Letzte Bearbeitung: 16. Januar 2015 um 12 Uhr 16 Minuten

 

0.

Als die Einladung zum Besuch einer Tanz-Veranstaltung kam, hiess das Thema "Human Rights."

Und am Eingang zum Bühnenraum im Radialsystem in Berlin standen Frauen und warben mit Plakaten und blechernen Spardosen um Spenden.

Doch der Blick auf die Einladungskarte zeigt einen anderen Text. Und der lautete

Human writes.

1.

Zufällig war bekannt, dass es eine Bewegung in den USA zur Unterstützung von Straffälligen gibt, die in den USA in den Gefängnissen auf den Vollzug der gegen sie verhängten Todesstrafe warten.

Human Writes is a long established organisation founded for the purpose of befriending prisoners on Death Row in the USA. Whilst everyone involved with Human Writes is against the death penalty, the organisation does not campaign as such, as its main remit is friendship through letter writing.

Human Writes is not linked to any particular political or religious groups. The organisation has become well known internationally and many prominent public figures actively encourage and support the work that we do. We have become generally known and accepted by the US prison authorities as a reputable organisation, working within the parameters of their systems.

II.

Nicht bekannt waren eine Reihe anderer Projekte und Initiativen, die sich diesen Begriff zu eigen gemacht haben, zum Beispiel:

Das Human Writes Projekt mit "Brooklyn Beats to Beitrut Streets".

Oder:

Die Autorengruppe Jens Klocke, Christian Matzerath , Niko Plaas die in Deutschland gemeinsam unter dem Namen HUMANWRITES firmiert.

III.

Wie aber erst im Nachherein, nach dem Erleben dieses Freitagabends vom 27. August 2010 zu erleben war, bezieht sich der Name auch auf den Tanz- und Choreographie-Projekt, das in der Mitte dieses Jahrzehnts entwickelt worden ist.

Der erste Hinweis dazu kommt von der Lotto-Stiftung. Die Stiftung Deutsche Klassenlotterie Berlin hat nämlich der Hebbel-Theater Berlin GmbH eine Zuwendung in Höhe von fast T-Euro 100 gewährt, um die Produktion „Human Writes“ von William Forsythe im Rahmen des Festivals Tanz in der Zeit vom 27. bis 29. August 2010 nach Berlin einladen zu können.

Das Stück „Human Writes“, so ist dort weiter zu lesen, das William Forsythe gemeinsam mit dem amerikanischen Rechtswissenschaftler Kendall Thomas entwickelte, wurde im Jahr 2005 in Zürich uraufgeführt.
„Human Writes“ setz sich mit dem Thema Menschenrechte und dem körperlichen Akt des Schreibens auseinander. Während der Aufführung versuchen 40 Tänzer, in ihrer jeweiligen Muttersprache einen Teil der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte auf Tische und Papier niederzuschreiben, während jeder Strich unter physischen Einschränkungen zu ziehen ist und das Publikum zur Mithilfe angehalten wird.

IV.

All das ist ebenso knapp wie richtig beschrieben.

Wer aber, wie der Autor, völlig unvorbereitet und "unwissend" den Raum betritt, findet sich in einem riesigen vollständige mit rechtwinklig zueinander angeordneten Tischen, an denen jeweils ein Akteur sich um etwas bemüht.

Dass es darum geht, dass hier schlussendlich ein Text entstehen soll, ist zunächst nicht ersichtlich. Allein der Blick in auf die Wände dieses grossen mit sonst nichts anderem ausgestatteten Saales zeigt, die Ergebnisse dieser Arbeiten, die Spuren dieser Auseinandersetzung mit Körper und Text, mit Bewegung und dem Schreiben.

V.

Zunächst einige Hinweise darauf, wie dieser Abend von anderen beschrieben wurde.

In Berlin:

Sandra Luzina am 28.08.2010 22:11 auf der Online-Seite des Tagesspiegel mit Tanztheater. Schreib das auf!

[...] Wenn die Zuschauer in den großen Saal des Radialsystems strömen, werden sie sogleich hineingezogen in eine emsige, schweißtreibende Aktivität. 40 Zeichentische sind in Reihen aufgestellt. Auf weißem Papier sind einige der Artikel mit Bleistift notiert. Der komplette Urtext von 1948 hängt an der Wand. Die Tänzer machen sich mit Kohlestiften ans Werk, sie jagen den flüchtigen Ideengebilden hinterher und ringen um jede einzelne Letter.

Die Aktion ist eine buchstäbliche Auslegung – und eine absurde Anstrengung, ist doch jeder Strich erheblichen Widerständen abgetrotzt. Die Regeln und Verbote, die den Tänzern auferlegt wurden, behindern das Schreiben. Die Hände sind ihnen gebunden, oder auf dem Rücken gefesselt. Sie führen den Stift mit dem Mund übers Papier oder schreiben mit der Armbeuge. Bei Yoko Ando klemmt er zwischen den Zehen des rechten Fußes, in wilder Verrenkung krakelt sie japanische Zeichen in vertikalen Reihen.  [1] Andere lecken die pulverisierte Kohle und lassen die Zungenspitze kreisen. Es ist ein unermüdliches Kritzeln, Ritzen, Bohren und Verwischen. Das Tackern und Hämmern bildet das Hintergrundgeräusch in diesem Labor. [...]

In Frankfurt:

Im Vergleich dazu ein Bericht von der Frankfurtpremiere am 14. November 2006 im Bockenheimer Depot der städtischen Bühne in Frankfurt/Main statt, so wie der am Tag danach im Online-Magazin für Giessen von Frank Sygusch unter der schlichten Überschrift "Human Writes" Performance Installation von W. Forsythe und Kendall Thomas // The Forsythe Compagnie veröffentlicht worden war.

In Zürich:

Martina Wohlthat auf Seite 60 der Dezemberausgabe von ballettanz aus dem Jahr 2005, so wie sie bis dato auch noch Online bei bei Kultiversum nachzulesen ist.

[...] Sisyphos ist in der Schiffbau-Halle in Zürich unter die Tänzer und Menschenrechts-Skribenten gegangen. Sisyphos muss dabei in der dem Zürcher Schauspielhaus als Spielstätte fürs Spektakuläre dienenden Riesenhalle gar keinen Felsblock bergauf wälzen. Er braucht bloß nachzubuchstabieren, was die Vereinten Nationen 1948 als das Recht aller Menschen auf Freiheit, Bildung und Meinungsfreiheit in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte festgeschrieben haben. Das ist offenbar schwer genug. An sechzig in fünf Zwölferreihen aufgestellten Tischen schreiben mit Kohlestaub bedeckte Tänzer aus Forsythes Company und der freien Zürcher Szene vier Stunden lang Auszüge aus der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte gegen mannigfache Widerstände auf die Papierbögen. Der Akt des Schreibens unterliegt sisyphosartigen Selbstverhinderungstaktiken. Kein Strich oder Buchstabe darf direkt entstehen. Jede Markierung, die zur Bildung eines Buchstabens führt, muss aus einer physischen Einschränkung, einer Belastung oder einem Widerstand heraus zustande kommen. So will es das Konzept der Konzeptkunst. Die Performer sollen Fragmente aus verschiedenen Übersetzungen der Menschenrechtserklärung niederschreiben. Sie stehen sich dabei selbst im Weg oder müssen sich gegen hinderliche Einflüsse behaupten. [...]

VI.

Diese Darstellungen lassen noch etwas Raum für einige intermediale Beobachtungen, die in keiner dieser Berichte weiter aufgenommen wurden: die Ver-Führung des Publikums.

Es ist in den letzten Jahre - gerade im Zusammenhang mit den Auswirkungen der Digitalisierung - immer wieder und immer mehr von den Möglichkeiten der Interaktivität und der Immersion die Rede gewesen, gerade wenn es um die Entwicklung und Begegnung mit angeblich "neuen Content" die Rede ist.

Hier nun wird ein Abend inszeniert, in der all dieses ganz vorzüglich funktioniert: Der Zuschauer hat keine andere Chance als sich einzubringen, oder sich ganz bewusst dazu zu entscheiden, sich das Geschehen vom Rande aus zu betrachten. Und die Akteure sind in ihrem Handeln bei aller Intensität des einzelnen Versuchs alles andere als "unnahbar", sie sind in den Pausen zwischen diesen Aktionen ansprechbar und sprechen auch das Publikum selber an, durch ihr pures Handeln, aber gelegentlich auch ganz direkt: mit den Augen, mit ihren Gesten, verbal.

Dieses hier ist "Mitmachtheater" von der allerfeinsten Sorte. Die Betrachterin / der Betrachter kann aktive werden, muss es aber nicht. Auch das Zuschauen und Zuhören vom Rande des Aktionsfeldes ist eine ebenso mögliche Form der Teilnahme und Teilhabe.

Als gegen Ende dieses Abends mehr und mehr die Tische selber bewegt werden, Gegenstand der Auseinandersetzung und Verselbständigung werden, bricht das ganze Arrangement auf und bindet die Zuschauer erneut in das Schlussbild, wie es hier gezeigt wird, ein.

VII.

In der Zwischenzeit gibt es Momente, in denen es so scheint, dass die Zuschauer selber zu den eigentlichen Akteuren geworden sind. Das Mühen jedes einzelnen Ensemblemitgliedes verdichtet sich nach und nach so sehr in einem eigenen Wahrnehmungscluster, dass es zu einem immer dichteren Ganzen wird. Währen die Zuschauer - nach wie vor - durch dieses Szenarium herumgehen, herumirren, herumschweifen. Und damit zum mobilsten Teil der gesamten Veranstaltung werden.

Dass am Schluss wieder "die alte Theaterordnung" hergestellt ist, dafür sorgt in Berlin eine ebenso diskrete wie raffinierte Inszenierung von akustischen Begleitstimmungen, Lichtständen und sich öffnenden und schliessenden Fensterklappen, die in ihrem Ensemble eine ganz eigene kontinuierlichen Veränderung herstellen, die ihrerseits wiederum die Auswirkung einer spannungsreichen Kontinuität mit sich bringt. Und die letztendlich doch dem Publikum seinen Rahmen setzt, in dem es frei inter-agieren kann. Eben dieser dramaturgische Rahmen, der die Zuschauer ganz unmerklich wieder an dem dafür vorgesehenen Punkt zusammenführt ist - über die Einzelleistung der Tänzer - das ganz Besondere dieser Inszenierung. Sie macht uns als Gäste dieses Abends in der Reflektion auch auf das eigene Verhalten klar, welche Freiheiten wird in diesen zwei Stunden haben wahrnehmen dürfen - und können.

Es gelten die Regeln des Urheberrechts all rights reserved

Anmerkungen

[1Ein Ausschnitt aus dieser Arbeit ist hier zu sehen:

Es gelten die Regeln des Urheberrechts all rights reserved

Sowohl das hier als auch das am Schluss des Artikels dargestellt Photo wurde mit einem iPAQ-Smartphone erstellt. Und in einem Fall die Unschärfe ganz bewusst mit in Kauf genommen. WS.


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