Im Schatten des Gulag

VON Dr. Wolf SiegertZUM Donnerstag Letzte Bearbeitung: 16. Januar 2015 um 16 Uhr 13 Minuten

 

RBB-TV-Programm-Empfehlung für den Berlin-Brandenburger Sende-Raum, heute um 23:55 - 01:25 Uhr:

Der Film geht der Frage nach, wie "Kinder des Gulag" mit einem Verbrechen an ihren Eltern leben können, über das nicht gesprochen wurde und das auch nicht als solches bezeichnet werden durfte.

Jüdische Kommunisten aus Deutschland gehen in den 1930er-Jahren ins sowjetische Exil, um der nationalsozialistischen Verfolgung zu entgehen. Ihre Kinder gehen mit ihnen oder werden im Exil geboren. Während der stalinistischen Säuberungen werden Mütter oder Väter in Moskau verhaftet, in Gulags verschleppt oder gar erschossen. Einige Kinder kommen in ein Kinderheim, andere werden nach Sibirien oder Kasachstan deportiert. Viele müssen Zwangsarbeit leisten. Leben in Unfreiheit - sei es im Heim, in der Verbannung oder im Lager - wird Normalität. Sie sind Fremde in dem Land, dessen Sprache sie sprechen. Sie sind Deutsche. Und Deutsche haben die Sowjetunion überfallen. Erst in den 1950er-Jahren kommen sie nach Deutschland, sind Fremde in dem Land, das ihre Heimat sein soll. Sie sprechen die Sprache nicht, sind als "Russen" auch nicht sonderlich beliebt in der Zeit nach dem Krieg. Der Teil Deutschlands, in dem sie nun leben, die DDR, wird regiert von Männern, die auch aus dem sowjetischen Exil zurückkehrten, ohne verfolgt worden zu sein, und die viele, auch sehr persönliche Gründe haben, über die Jahre des stalinistischen Terrors zu schweigen und das Schweigen darüber zu verordnen. Erst heute sind die "Kinder des Gulag" bereit zu sprechen. Sie erzählen Geschichten vom Verlassensein, von Gefühlen der Fremdheit und Distanz gegenüber den Eltern oder aber von symbiotischen Beziehungen, durch die sie bis heute die kommunistischen Ideale ihrer Eltern leben. Die meisten unserer InterviewpartnerInnen erzählen das erste Mal über ihre Erinnerungen, sie sprechen von der Sehnsucht nach Zugehörigkeit, von zahlreichen Brüchen in ihrem Leben, von wechselnden Identitäten und vom verordneten Schweigen. Viele wissen bis heute nicht, was mit ihren Eltern (und mit ihnen) damals wirklich geschah. Es kommen etwa 20 Frauen und Männer zu Wort, die eines miteinander verbindet: Ihre Eltern waren Opfer der stalinistischen Säuberungen und wurden von ihren eigenen Genossen verfolgt oder ermordet.

Angelika Mihan in der Märkischen Allgemeine vom 01. Dezember 2011:

POTSDAM - Als der braune Terror mit der Errichtung des Nazi-Regimes in Deutschland zu wüten begann, hatten Kommunisten immer noch einen Ausweg – ihren Traum vom Aufbau des Sozialismus in der Sowjetunion. Dachten sie jedenfalls. Und wurden als Emigranten dort zunächst auch von Herzen begrüßt, weil sie sich voll und ganz für „die Sache“ einbrachten. Doch bald trafen die „Säuberungsaktionen“ auch sie mit ganzer Härte. Nacht für Nacht verschwanden Mitkämpfer, Freunde, Familienangehörige, oft spurlos. Kaum vorstellbar, dass es zu diesem Grauen noch eine Steigerung gibt. Aber es gibt sie – das Schicksal der Kinder derer, die der Terror dahingerafft oder in Bergwerke versenkt hat.

Die Dokfilmerin Loretta Walz (Grimmepreis 2006 für „Die Frauen von Ravensbrück“) hat 21 dieser Kinder ausfindig gemacht und stellt acht von ihnen, die als Deutsche unter Stalin geboren wurden, vor. Zum Beispiel Walter Nauschütz, der gar kein Deutsch mehr spricht. 1932 in Dresden geboren, flieht er mit seiner Mutter wegen der Judenverfolgung vier Jahre später nach Moskau und muss dort erleben, dass sein Vater 1938 als Spion verhaftet wird. Oder Tamara Novotna, die trotz ihres russischen Namens fließend Deutsch spricht, die 1941 zuerst nach Kasachstan deportiert wird und dort – nach Kriegsende – von ihrer lebenslangen Verbannung erfährt. Neben diesem Schicksal haben alle Kinder noch etwas gemein: Als sie in die DDR einreisen durften, wurden sie zum Schweigen verdonnert, denn ihre Schicksale hatten im staatlich verordneten Bild der ruhmreichen Sowjetunion keinen Platz. Andererseits wollten die Mitschüler deren Geschichten auch gar nicht hören, denn für sie handelte es sich um „Russen“. Im Film in Koproduktion mit MDR und RBB berichten sie erstmals über ihr Schicksal und, wie sie unschuldig zwischen alle Fronten geraten konnten.


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