Prag -> Berlin: die Bahn Sehnsucht nach Mitropa

VON Dr. Wolf SiegertZUM Sonntag Letzte Bearbeitung: 30. Dezember 2014 um 15 Uhr 40 Minuten

 

Am Sonntag um 15 Uhr in Prag auf den Zug von Wien nach Berlin eingestiegen. Der Weg auf den reservierten Platz führt durch den Speisewagen. Mit drei Gepäckstücken behängt durch einen engen Gang an der "Küche" vorbei. Der "Chef de quisine" kommt mir entgegen. Er will in seine Kombüse und macht dieses auch durch seinen Gestus eindeutig klar: "ich hier Chef, Du störts hier meinen Weg". So geht es mir durch den Kopf, während ich ihm - wie seinezeit dem Gessler - den Weg freimachen. Trotz allen Gepäcks und nicht wissend, was noch geschehen wird.

Auch der Sitzplatz in der ersten Klasse hat einen entscheidenden Nachteil, der nur dieser Klasse bereitgestellte Stromanschluss für den Rechner funktioniert nicht. Im ganzen Wagon nicht.

Da es auch keinen Service am Platz gibt, gehe ich nochmals in den Speisewagen um mir das Leben zumindest durch einen Kaffe und Kuchen zu versüssen. Aber der ganze Wagen ist frei von jeglichem Personal. Als einziges finden sich in einem Körbchen an der Ausgabe Süssigkeiten mit der Marke "Mars" und "Lion".

Nach 10 Minuten Wartezeit nehme ich einen "Lion" mit - an meinen Platz und kehre am Grenzbahnhof wieder in den Speisewagen zurück, um meine Schulden zu bezahlen.

Jetzt steht mir mein Gessler im Inneren seiner Kombüse gegenüber. Er putzt Gläser und lässt mich gar nicht erst zu Wort kommen. Nein: ich brauche gar nicht erst versuchen, mit ihm reden zu wollen. So sein Gestus. Und er redet mit mir wie mit einem, von dem er denkt, er verstünde kein Deutsch. Und er zeigt auf seine Uhr die 10 vor 6 anzeigt und deutet mit seinem Zeigefinger auf die 12. Bis dahin sei bei ihm nicht geöffnet.

Nachdem mir so rigoros übers Maul gefahren wurde, bleibt mir der Mund vielleicht wirklich offen stehen. Selten genug, aber jetzt bin ich wirklich sprachlos. Nochmals 10 Minuten Wartezeit und dieses Mal Angesicht zu Angesicht mit diesem Mann?

Nein, das ist dann doch der guten Aufrichtigkeit zu viel. Ich gehe zurück an meinen Platz und nutze die noch verbleibende Ladung in meinem Rechner, um diese kleine Begegenheit aufzuschreiben. Dann packe ich auch den Rechner zusammen und wandere mit meinem "Lions" Einpackpapier zur Müllablage. Hier kann ich zwischen drei Abfalleimern wählen: was für ein Service!


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