Über die Kunst Musik möglich zu machen

VON Dr. Wolf SiegertZUM Montag Letzte Bearbeitung: 27. Mai 2015 um 22 Uhr 40 Minuten

 

0.

Falls es der eine Leser oder die andere Leserin nicht wissen sollten: In Berlin gibt es - immer zu Pfingsten - den "Karneval der Kulturen". Mit einem grossen Umzug am Sonntag, mit Strassenfesten vom Freitag bis zum Montag ... und mit "Musik an jeder Ecke".

Und um Musik soll es heute gehen. Und zwar nicht um all jene Klänge, die in diesen Tagen auf dem Karneval zu Gehör gebracht wurden, sondern um die Musikdarbietungen an einem ganz besonderen Ort, an dem sich ganz besondere Leute mit einem ganz speziellen Geschmack für moderne Unterhaltungsmusik versammelt haben.

Dabei geht es in diesem Text nicht um eine Sammlung von Kurzkritiken zu den einzelnen Gruppen, die nacheinander in einem dunklen, gewölbe-ähnlichen Raum auftraten. Und es geht auch nicht um den Lobgesang auf den einen oder die andere DJ, der alternativ dazu im "Garten" die Gäste in Entzücken, einige vielleicht sogar in Ekstase versetzten. Sondern es soll vielmehr darum gehen, wie Musik, wie die hier gehörte und erlebte, heute entsteht und wie sie wahrgenommen wird.

1.

Auf der überschaubaren Bühne war alsbald schon aufgrund der jeweiligen Aufbauten klar, dass die Zeit: Ein Instrument, ein Verstärker, ein Mischpult und ein Satz Lautsprecher... dass diese Zeit vorbei ist.

Nicht nur, dass die Musik seit langem elektrifiziert wurde - am besten zu sehen an dem Trend, gewisse Darbietungen auch wieder "unplugged" präsentieren zu wollen - heute ist die Musik immer mehr elektronifiziert. Auf der Bühne stehen viele grosse und kleine Kästchen mit den unterschiedlichen Bedienelementen, mit Tasten, Reglern, Fussschalter, ... die im Verlauf der Darbietungen immer wieder zum Einsatz gebracht werden.

Die hier dargebotene Musik wird nicht länger nur verstärkt und dabei ggf. auch der Klang des Instrumentes verfremdet - die an diesem Abend vorgestellte Musik entstand sowohl unmittelbar als auch mittelbar. Auch dann, wenn sie live von der Bühne kommt, ist sie nicht länger "nur" live music" im herkömmlichen Sinne.

Dabei ist und bleibt die Bühne immer noch der Ort der Präsentation, der unmittelbaren Begegnung von MusikerInnen und ihrem Publikum. Aber was sie vorspielen, vorsingen, vorführen ist weit mehr als der Klang ihrer Instrumente, der menschlichen Stimme. Auch das schon lange nichts Neues mehr. Aber es ist immer noch das andauernde Suchen nach dem Neuen in der Musik, das über die Gestaltung von neuen Klängen weit hinausgeht.

Eben das macht einen solchen Abend interessant: Kaum einer der Klänge, die es im nächsten Moment zu hören gibt, ist "vorherhörbar". Denn es gibt nicht länger nur jene auf der eingesetzten EDV basierenden Tools, die wie ein Instrument zum Einsatz gebracht werden, sondern es kommen auch all jene im Rechner vorgefertigt eingespielten Tracks, Loops, usw. zur Geltung, die als klangliches Readymade mit auf die Bühne gebracht und dort eingesetzt werden.

2.

Das kann einen grossen Reiz haben. Zumal dann, wenn an einem Abend eine Vielzahl von - zumeist noch jungen - Gruppen auftritt. Und jede auf ihrer Art und Weise vorführt, wie gut all das heute mögliche Instrumentarium in gegenseitiger Ergänzung eingesetzt werden kann, wie alles sehr gut miteinander zusammenspielen kann - im wahrsten Sinne dieses Wortes.

Es geht also nicht darum, sagen zu wollen, dass in "früheren Zeiten" die Musik ohne EDV eben doch noch so viel besser geklungen habe... weit gefehlt. Vielmehr soll im weiteren Verlauf dieses Textes darüber reflektiert werden, warum diese neue Wirklichkeit der Musikpräsentation auch neuer Kriterien ihrer Wahrnehmung, ihre Annahme, ihrer Rezension bedarf.

3.

Und jetzt wird es spannend: Denn der Abend machte deutlich, dass auch ein noch so hoher Abstraktionsgrad der Komposition, dass eine noch so hohe Durchmischung von realen und gesampelten Sounds, von unmittelbarer und mittelbarer Klangerzeugung, dass all das noch lange nicht dafür Sorge trägt, mit solch neuem Klang das "andere Ufer einer neuen Musik" erreicht zu haben.

Denn es bleibt der Spannungsbogen zwischen jenen akustischen Ereignissen, die die Neugier wecken, und jenen, die zur Sättigung führen, zwischen jenen, die nach einer Fortsetzung verlangen, und jenen, die eine Abkehr von dem gerade Erlebten wünschenswert machen.

Es ist gerade dieser Weg ins Neue, der einer ganz besonderen Dramaturgie bedarf, der nach ganz besonderen Qualitäten und Persönlichkeiten verlangt: Um als Publikum an diesem Privileg einer gemeinsamen Reise teilhaben zu können, um im Beisammensein dem Pfad dieser MusikerInnen folgen zu können, ja, vielleicht sogar gelegentlich eigene Wege zu er-finden, um sich sodann wieder mit den musikalischen Anregungen von der Bühne treffen zu können...

4.

Auf diesen Pfadfinder-Wegen folgen, sich diese überhaupt erst ebnen zu können... in beiden Fällen ist die Elektronik wie ein mentales GPS, das einem anzeigt, wo man ist, ohne vorzuschreiben, wohin man zu gehen hat.

Die Zeiten, wo Du noch mit Deiner Gibson vor Deinem Marshall standest und im lauten Feedback-Loop neue Klangwelten erschlossen hast, mögen längst "Geschichte" sein. Aber das Abenteuer, nach der Elektrifizierung Ähnliches nun auch mit der Elektronifizierung wieder zu erleben, bietet sich erneut an. Das Virtuose ist nicht mehr länger auf das Beherrschen "des Instrumentes" beschränkt, es sei denn, dass auch der Rechner im Allgemeinen und dessen Programme im Besonderen in diese Kategorie als Instrument mit Aufnahme gefunden hätten.

Heute wird auf vielen dieser Instrumente der Ton nicht länger "nur" in Reinkultur erzeugt oder verfremdet an das Publikum weitergegeben, sondern über die Weiterleitung an einen dieser vielen nachgeschalteten Kästen, die diesen Impuls ihrerseits aufnehmen, weiter verarbeiten - entweder vorprogrammiert oder durch das aktuelle Eingreifen der MusikerInnen - und über die Verstärker und Lautsprecher abgeben.

Besonders spannend waren im Verlauf dieser Live-Konzerte vor allem jene Momente, in denen der "Instrumentalist" den von ihm selbst erzeugten "Ton" auf dessen Weg zum Verstärker nochmals auffing und durch seinen direkten Eingriff erweiterte, veränderte, ja, zum Anlass für etwas "ganz Anderes" nahm, das sich dann so dem Ohr der Anwesenden anbot.

5.

Um all das aber wirkfähig werden zu lassen, ist die ganze Person eines jeden Teilnehmers in Anspruch genommen. Musik, wie die an diesem Abend gehörte, geht durch alle Sinne - und durch den ganzen Körper.

Eben das aber macht die Arbeit an dem Erfolg eines solche Live-Vortrags noch extremer, aufwendiger, komplizierter, schwieriger... und bei den kurzen Umrüstzeiten fast zu einem Ding der Unmöglichkeit, um all das zusammenzubringen, was da auf der Bühne an Klangerzeugung versammelt wird.

Wenn es schon schwer genug ist, einen "klassischen" Bandauftritt gescheit einzurichten und abzumischen, so ist hier die Aufgabe nochmals um ein Vielfaches anspruchsvoller. Und damit per se permanent zum Scheitern gezwungen. Es sei denn, man verständigt sich auf die Position, dass man am Abglanz des Schalls erkennen möge, was sich dahinter noch so alles an Möglichkeiten - die man unter komfortableren Verhältnissen hätte zum Leuchten bringen können - verbirgt.

6.

Apropos Leuchten: Was bei einem so hohen Anspruch überhaupt nicht mehr geht, ist das Schalten so einer x-beliebigen Bühnenlichtanlage, die - zumindest im wahrsten Sinne des Wortes "scheinbar" - nichts mit mehr mit dem zu tun hatte, was da auf der Bühne passierte.

Mag auch jeder Vergleich mit grossen aktuellen Events der modernen Unterhaltungsmusik und deren lichttechnischer Unterstützung von vornherein unangebracht sein, so sollte sich dennoch - auch bei der Ablehnung solcher Mittel der Begleitregie - herumgesprochen haben, dass sie entweder im Rahmen des Möglichen "richtig" zu nutzen sind, oder dann lieber gar nicht. Die wenigen aufgestellten Scheinwerfer-Sets einfach so für sich "herumorgeln" zu lassen, das geht nicht zusammen mit dem hohen Aufwand an Sensibilität, die aufgebracht wurde, um immer wieder neue Bindeglieder zwischen dem zu entwickeln, was die oben geforderte und zu fördernden Persönlichkeit und Qualität der MusikerInnen und ihrer Kompositionen ausmacht.

7.

Die hier aufgestellten An-Forderungen, oder vielleicht sagen wir besser "Kriterien", beziehen sich aber nicht nur auf die bisher betrachteten stage-acts, sondern in gleicher Weise auch auf das Treiben der DJ’s, die heute zumeist mit ganz anderen Sound-Sources arbeiten als einer Vinyl-Platte oder CD.

Dabei machen immer wieder neue überzeugende Auftritte, Events, Inszenierungen dieses Genres klar, dass sich diese Art der Performance kaum noch von der Genese einer "klassischen" Musikdarbietung unterscheiden lässt. Wer daran noch einen Zweifel hat, der solle sich schnellstmöglichst eines der Tickets für das diesjährige Sónar Festival in Barcelona besorgen und sich vor Ort selber davon überzeugen, was state-of-the-art ist.

Gewiss, natürlich gibt es nach wie vor ganz deutliche Unterscheidungsmerkmale, sobald man schaut, wie diese musikalischen Ereignisse generiert, arrangiert, live eingespielt und abgemischt werden. Aber wenn es darum geht, genauer hinzuhören, wird schnell klar, dass es bei den besseren VertreterInnen dieses DJ-Genres genauso um Dramaturgie und Komposition, um Lust und Latenz, ums Defragmentieren und Dephasing geht... kurz, um die Musik als Kunstwerk auf der Basis ihrer elektronischen Reproduzierbarkeit.

8.

An diesem Abend war es so, dass Live-Aufführungen und die DJ-Performances teilweise im direkten Wettbewerb zu stehen schienen. Auf jeden Fall war zu erleben, dass der angesagte Auftritt einer der Gruppen sogar zurückgestellt wurde, da gerade in diesen Minuten ein weiblicher DJ im "Garten" einen so grossen Erfolg hatte, dass es unmöglich gewesen wäre, gegen diese Performance jetzt live anzuspielen.

Allerdings war es schon zuvor aus Sicht des Autors unfair, die DJ’s selbst dann mit fast unverminderter Lautstärke weiterspielen zu lassen, wenn im "Gewölbe" eine der Gruppen mit ihrem Auftritt zu Gange war.

Gewiss, auch solche Sound-Battles sind wahrlich nichts Neues, aber der Respekt vor diesen jungen engagierten Musikern auf der Bühne hätte es verlangt, im Moment ihres Auftretens ihnen die ungeteilte Aufmerksamkeit zukommen zu lassen. Auch - und gerade - dann, wenn ihr Spiel in vielen Fällen alles andere als leicht kommensurabel war. Auch dann, wenn ein Teil das Publikums sich zunächst und vor allem der Fünf-Jahre-Geburtstags-Party-Laune hingeben möchte.

9.

Musik muss Laune machen? Ja, sicher. Aber kann eine anspruchsvolle, nicht immer voll ausgereifte, unzureichend abgemischte, von äusseren Klängen gestörte Performance etwas Anderes zu Wege bringen als die Befriedigung der Lust auf eine guten Laune?

Nein, die Musik muss nicht per Definition für sich alleine stehen, für sich die uneingeschränkte Aufmerksamkeit in Anspruch nehmen. Aber dieser Abend hat deutlich werden lassen, dass es klug ist, wenn man die Räume, ja, vielleicht sogar Inszenierungen so baut, dass aus diesen intuitiv hervorgeht, in welcher Rolle sich Produzenten und Konsumenten jeweils aufeinander beziehen können.

Das zu erreichen ist vielleicht noch schwerer als das Einmessen und Einstimmen eines bestmöglichen Klanges. Und es ist leicht, darüber zu schreiben - wohl wissend, welch grosse Herausforderungen damit aufgerufen werden. Aber diese Forderung wird hier nicht an irgendwen und irgendeine Gruppe von Leuten gerichtet, sondern an jene, die in dieser noch noch jungen Welt durchaus schon "vom Fach" sind, an eine In-Group also.

Feiern? Aber ja. Aber auch diese Mittel des Vergnügens sind nicht für jeden die selben: Vergesst nicht, selbst die heute so populäre "Ode an die Freude" wurde einst nicht für "irgendwen" geschrieben, sondern für die Freunde einer Freimaurerloge.

So gesehen, war dieser Abend ein voller Erfolg, und auch nach fünf Jahren noch nicht im Mainstream angekommen zu sein, ist alles andere als ein Makel.

10.

Zu guter Letzt aber nochmals zurück auf die zeitliche Koninzidenz dieses Events mit all den Veranstaltungen im Rahmen des Karnevals der Kulturen.

Dazu das folgende Erlebnis: Da die Bühnenmusiker mit Respekt vor dem Ruhebedürfnis der Anwohner schon am früheren Abend ihr akustisches Treiben haben einstellen müssen, kam ein Veranstalter auf die Idee, im weiteren Verlauf dieses Abends statt der Bands einen DJ auftreten zu lassen und mit dessen Musik nicht die ganze Strasse zu beschallen, sondern nur die Infrarot-Schnittstellen einer grossen Zahl von akku-betriebenen, tragbaren Kopfhörern.

Und so kommt es zu dem seltsamen Spektakel, dass sich an einem nur durch die Reichweite des Infrarotstrahls bestimmten Ort viele junge Leute, mit eben diesen Kopfhörern ausgestattet, heftig tanzend Seite an Seite bewegen, gelegentlich laut rufend, mitsingend, sich etwas zurufend, ohne dass die "Anderen", all die
ohne Kopfhörer, mitbekommen, was da eigentlich hinter den Ohren der tanzenden Menge abgeht.

Auch dies eine temporäre Ingroup, die ohne Elektrifizierung und Elektronifizierung nicht möglich gewesen wäre, die sich dem Regelwerk dieser Art von Musikvermittlung unterwirft. Und die eben dadurch einen recht grossen Spiel- und Freiheitsraum geniesst... bis dass die Akkus erlahmt sind :-)


13317 Zeichen