Arno mit "2001" auf "Seite 1"

VON Dr. Wolf SiegertZUM Dienstag Letzte Bearbeitung: 3. August 2004 um 10 Uhr 54 Minuten

 

Jetzt hat Arno Widmann - der mich einst als TAZler zum französischen Kulturkorrespondenten in Paris eingesetzt hatte - wieder einen Text auf der ersten Seite. Bei der Berliner Zeitung in der Ausgabe vom 3. August 2004.

Dazu einige Vorbemerkungen:

 Noch überwiegt die Freude darüber, dass so ein guter Mann von der "Kulturfront" nun auch mal auf die "Frontpage" seiner Zeitung kommt. Und als Abonent diese Zeitung erlaube ich mir diesen Text hier auch in voller Länger zum Abschluss der eigenen Anmerkungen zu zitieren.

 Besonders bemerkenswert ist dieser Text, da er in unverblümter Weise tut, was auf einem anderen Teil der Zeitung den Öffentlich-Rechtlichen Sendern zum Vorwurf gemacht wird: die Produkte ihrer Sponsoren mit in ihre Kommunikation einzubeziehen. In diesem Artikel hingegen werden nicht nur Verlag und Vertrieb benannt, sondern sogar der Preis (bleibt nur noch die Frage offen, ob und wann diese Silberscheiben als "Goodies" für die erfolgreiche Anwerbung neuer Abonennten eingesetzt werden ;-)

 Vor meiner Zeit in Paris war ich des öfteren in China. Seit der Mitte der siebziger Jahre. Ich hatte schon in diesen Jahren die Chance, die Volksrepublik allein bzw. mit von mir selbst ausgesuchter fach- und sprachkundiger Begleitung zu bereisen. Damals zahlte man auf dem Festland noch bis zum Vierfachen des Preises für die gleiche Strecke und den gleichen "Komfort" wie die Chinesen. Und das Ganze in Dollar.

 Zur gleichen Zeit war ich Gastprofessur an einer renomierten Universität in Taiwan. So hatte ich die Chance, China als ein - bis heute - gespaltenes Land kennenzulernen, jenes "Reich der Mitte", das damals für viele noch "in the middle of nowhere" inzwischen aber längst auch zum Finanz-Zentrum dieser globalisierte Welt geworden ist (Bill Clinton hat das ja dieser Tage selbst auf dem Kongress der Demokraten in Boston in seiner Rede durchblicken lassen).

 Und so fehlt mir denn im nachfolgenden Text - bei aller selbstironischen Distanz zu der hier vorgetragenen Freude über die guten Seiten der Globalisierung - doch ein wenig jene Distanz zum Deutschen Wesen, an dem der Geist genesen solle: zumal an der Stelle, an der "bedauert" wird, dass den des Deutschen unkundigen Abschreiberinnen der Sinn des von ihnen Reproduzierten so ganz und entgeht. Dann aber scheint es, dass der Autor am Ende selber feststellt, dass es gerade das "kann-nit-verstahn" des Textes ist, dass seine besonders akribische Reproduktion eher erleichert haben mag.

WS.

"Selten ist Globalisierung so schön.
Das Grimmsche Wörterbuch - geschrieben in China"

Sie waren entlassen worden und mussten jetzt einen Auftrag annehmen, den sie, solange sie noch Professoren waren, abgelehnt hatten. Die Gebrüder Grimm begannen Anfang der 30er-Jahre des 19. Jahrhunderts mit ihrer Arbeit an einem umfassenden Wörterbuch der deutschen Sprache. Wie es bei derartigen Mammut-Projekten üblich ist, wurden sie nicht fertig damit, ebenso wenig ihre Nachfolger. Erst 1961war das "Deutsche Wörterbuch" von Jacob und Wilhelm Grimm mit der 380. Lieferung beendet. 84 Kilo wog der 32 bändige Brocken. Er kam dann nach und nach in immer preiswerteren Ausgaben auf den Markt. Jetzt ist das Regale füllende Werk auf zwei CD-ROMs (bei Zweitausendeins) für 49,90 Euros zu haben.

Dreizehn junge Chinesinnen saßen 36 Monate in einem Büro in Nanjing und tippten zur Sicherheit gleich zweimal die 300 Millionen Zeichen des Grimmschen Wörterbuches ab. Die Frauen können kein Wort deutsch. Sie haben keine Ahnung, welche Schönheiten ihnen beim Abschreiben entgingen. Zum Beispiel gleich der erste Eintrag: "A, der edelste, ursprünglichste aller laute, aus brust und kehle voll erschallend, den das kind zuerst und am leichtesten hervor bringen lernt ..." Wie viele Fehler hätte hier nicht ein Abschreiber machen können, der auch ein Leser gewesen wäre? Wäre er nicht über die konsequente Kleinschreibung gestolpert? Wäre er nicht geneigt gewesen "hervorbringen" zu schreiben, wie wir es gewohnt sind und überraschend auch nach der neuesten Reform weiter tun können? Er wäre so oft ins Nachdenken gekommen über wie alt das Neue und wie neu das vorgeblich Alte ist, dass er noch heute, wie weiland die Brüder Grimm, über dem ersten Bande säße.

Wir Deutsche haben jetzt das handlichste, das benutzerfreundlichste Wörterbuch unserer Sprache und wir haben es keiner Bosch- und keiner Mercedes-Stiftung zu verdanken. Es gibt es, weil an der Trierer Universität ein Professor namens Kurt Gärtner sitzt, der zusammen mit seinem chinesischen Kollegen Tao Jingning das Projekt anpackte und weil 13 Chinesinnen, die gelernt haben, dass es auf jedes Detail ankommt - auch und gerade, wenn man es nicht versteht - sich akribischer als je einer von uns um unsere Wörter bemüht haben. Sie haben es nicht aus Liebe, sondern für gute Dollars getan. Aber selten ist Globalisierung so schön.

Zitiert nach dem Text auf Seite 1 der Tagesausgabe der "Berliner Zeitung"
Reproduziert im BerlinOnline Stadtportal vom 03.08.2004 auf:
http://www.BerlinOnline.de/berliner-zeitung/politik/363548.html


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