Zum schleichenden Tod der Volksparteien (I)

VON Dr. Wolf SiegertZUM Dienstag Letzte Bearbeitung: 6. Juni 2019 um 10 Uhr 10 Minutenzum Post-Scriptum

 

Politik - aus der Sicht der Zeitungsmacher.

Heute Teil I: Die SPD

Kommentare und Prognosen vom Montag, den 3. Juni 2019

BADISCHEN NEUESTEN NACHRICHTEN, Karlsruhe:

„Andrea Nahles war nie eine Politikerin mit großen Sympathien. Lange galt sie als ‚Störenfrieda‘ der SPD oder wahlweise als ‚Königsmörderin‘. Sie ist nervend und fordernd und zuweilen auch einfach unbeherrscht. Sie ist aber auch eine begnadete Rednerin, eine ungemein intelligente Frau mit enormer Empathie. Sie kann gewinnend sein und zugewandt, genauso witzig wie albern – zuweilen bis zum Fremdschämen“

FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG:

„Eine ganze Partei hat im Grunde ihren Rücktritt erklärt. Damit kam ins Rutschen, was längst in der Luft lag. Als Nahles – das war vor einem Jahr – den Parteivorsitz übernahm, war klar, dass es auf lange Sicht die letzte Chance war, die den Sozialdemokraten blieb, wieder an ihre Zeit als Volkspartei anzuknüpfen. Sie haben diese Chance vertan, und es spricht nichts dafür, dass es dem Nachfolger besser ergeht. Denn der Parteivorsitzende wurde seit Gerhard Schröder stets zum Sündenbock dafür gemacht, dass die SPD aus dem Tritt geraten, gestrauchelt und schließlich abgestiegen ist in die zweite Liga der deutschen Parteien. Dort wird sie vorläufig bleiben“

FRANKFURTER RUNDSCHAU:

"... von den Scholzens und Schulzens und Gabriels und all den anderen, die stets an irgendwelchen Personal-Tableaus basteln, nie eine zündende Idee für die künftige Politik links der Mitte zu hören war. Aber von Andrea Nahles eben auch nicht. Das liegt, bleibt man noch einen Augenblick in den Niederungen der Aktualität, unter anderem an dem großen strategischen Fehler, den sie alle gemeinsam gemacht haben: Die gesamte SPD-Führung redete sich und der Öffentlichkeit im vergangenen Jahr ein, die programmatische Neuerfindung der Sozialdemokratie im postindustriellen Zeitalter ließe sich bei gleichzeitiger Regierungsbeteiligung in einer großen Koalition bewerkstelligen“

HESSISCHE/NIEDERSÄCHSISCHE ALLGEMEINE, Kassel:

„Die öffentliche Wirkung des SPD-Schauspiels ist verheerend [...] Mit Blick auf den grassierenden Vertrauensverlust, den Nahles als Begründung anführt, kommt ihr Abgang im Ergebnis einem erfolgreichen Putsch gleich. Ein Putsch, vor allem getragen von frustrierten Abgeordneten der Fraktion, der sich aus Verärgerung über die Wahlergebnisse, aus programmatischer Ratlosigkeit und bohrender Existenzangst speist.“

LEIPZIGER VOLKSZEITUNG:

„Voreilig rufen manche in der SPD jetzt nach Neuwahlen. Doch welches Problem soll damit gelöst werden? Besser wäre es, wenn gerade in Zeiten immer neuer Youtube-Aufregungen alle Parteien mal einen Gang zurückschalten würden. Die Berliner politische Szene muss ihre dienende Funktion gegenüber den Bürgern neu entdecken.“

RHEINISCHEN POST, Düsseldorf:

„Das Hauptproblem der SPD ist, dass sie selbst nicht weiß, wofür sie eigentlich noch gebraucht wird. Anstatt sich um die große soziale Frage unserer Zeit, bezahlbaren Wohnraum, zu kümmern, verkämpft sie sich für eine teure ziellose Rentenpolitik. Anstatt den arbeitnehmerfreundlichen Aufbruch in die digitale Arbeitswelt zu organisieren, halten die Sozialdemokraten an unzeitgemäßen Arbeitszeitrichtlinien fest. Anstatt in Brüssel die Besteuerung großer Internet-Konzerne durchzusetzen, verhindert ihr Finanzminister ebendiese. Kurzum: Den Sozialdemokraten fehlen Mut, Kraft und Ideen, auf den Umbruch von Gesellschaft und Arbeitswelt zu reagieren“

SÜDDEUTSCHE ZEITUNG, München:

„Die große Koalition torkelt noch einen Sommer; dann ist Schluss. Vermutlich im kommenden Winter werden Neuwahlen stattfinden. Die CDU muss von sofort an eine Kanzlerkandidatin oder einen -kandidaten finden; die SPD eine Vorsitzende, einen Fraktionschef und vor allem sich selbst. Letzteres wird ihr nicht gelingen, und wer Kanzlerkandidat wird, ist bei den Sozialdemokraten ohnehin ziemlich egal, denn die Kanzlerschaft wird bei der nächsten Wahl zwischen Union und Grünen ausgefochten“

DER TAGESSPIEGEL:

„Die SPD hat die Wahl zwischen Pest und Cholera“
Das am meisten diskutierte Thema auf Tagesspiegel.de ist seit Sonntagvormittag der Rücktritt der SPD-Chefin. Die Meinungen gehen weit auseinander.

ZEIT ONLINE, Hamburg:

„Er [Juso-Chef Kevin Kühnert] hat den Mut und offensichtlich die intellektuelle Fähigkeit, über den Tellerrand großkoalitionärer Zwänge hinauszublicken und richtungsweisend zu diskutieren – wie seine Thesen zum Sozialismus zeigen. Man muss ihm nicht folgen, um anzuerkennen, dass der Juso-Chef genau die diskursive Kraft entfalten kann, die für neue Wahlerfolge notwendig ist. Die SPD sollte sich trauen. Und Kühnert auch“

TAGESZEITUNG, Berlin:

„Eine Regierung muss handlungsfähig bleiben. Das ist ein abgedroschener Satz, weshalb kaum jemand hinhört, wenn er fällt. Dennoch ist er wahr. Vor allem in Zeiten internationaler Verflechtungen. Gegenwärtig ist die Bundesregierung nicht handlungsfähig. Wer hat denn ein Mandat für Verhandlungen innerhalb der Koalition? Die SPD steht führungs- und richtungslos in der Landschaft herum. Bei der Union sieht es kaum besser aus. Auch bei ihr ist die Führungsfrage ja völlig offen. Annegret Kramp-Karrenbauer war bei ihrer Wahl zur CDU-Parteivorsitzenden ein Kompromiss, also zum Erfolg verdammt. Der blieb aus. Nun wird sie kaum zur Kanzlerkandidatin gekürt werden. Aber wenn nicht sie: wer dann? Tja.“

Machen wir gleich dort weiter mit den Kommentare und Prognosen vom Dienstag, den 4. Juni 2019, wo wir am Tag zuvor aufgehört haben, und zwar gleich im Doppelpack: bei der

TAGESZEITUNG

Die SPD ist in keinem momentanen Tief, das mit einem entschlossenen Führungswechsel zu beheben ist. Sie hat auch nicht gerade Pech, weil die Grünen beim Klimaschutz, dem Thema 2019, die klarere Antwort haben. Es nutzt auch nichts, die kommenden Wahlniederlagen tapfer zu ertragen, weil die Zeiten schon wieder besser werden. Die SPD weiß nicht, welche Rolle sie in einer Zeit nach den Volksparteien spielen soll.

Sie verfolgt noch immer eine Strategie, die jahrzehntelang funktional war, aber in der zusehends individualisierten Gesellschaft und einem aufgefächerten Parteiensystem lähmend wirkt. Sie will in die Mitte, nicht aus Überzeugung, eher aus Gewohnheit und weil ihr nichts Besseres einfällt. [...]

Wenn die SPD so weitermacht wie bisher, verliert sie alles. Sie hat zu lange nichts riskiert. Entweder sie wird schnell jünger, sozial- und wirtschaftspolitisch radikaler, lustiger, kreativer, digitaler – oder sie wird auch das eigene Verschwinden verwalten.

TAGESZEITUNG:

Jetzt, im Nachhinein, ist von Scham über den Umgang mit ihr die Rede, von schändlichem Verhalten. „Da werden Verhaltensweisen kritisiert, die man bei keinem Mann kritisieren würde“, sagte Olaf Scholz am Sonntag bei Anne Will.

Was von Frauen auch und gerade in der Politik noch immer erwartet wird, sind Lächeln, Fürsorglichkeit und freundliche Aufmerksamkeit. Katarina Barley, Franziska Giffey oder Manuela Schwesig bedienen dieses Muster bisher weitgehend. Andrea Nahles tat es nicht. Und spätestens, seit sie ganz oben mit spielte, wurde sie sowohl von ihrer Partei als auch von einigen Medien dafür bestraft.

Nahles’ Rücktritt liegt nicht nur daran, dass sie in einer frauenfeindlichen Umgebung Politik gemacht hat. Aber gerade in einer so machistisch geprägten Partei wie der SPD hatte sie es zweifellos schwerer als es männliche Kollegen in derselben Situation gehabt hätten. Dass sich die SPD neu erfinden muss, sollte sie nicht vollends in der Versenkung verschwinden wollen, steht außer Frage. Sie täte gut daran, auch an ihrem Umgang mit Frauen zu arbeiten.

Aber halt, das haben wir auch mündlich im Deutschlandradio: Am 3. Juni in einem Kommentar von Theo Gers: Die SPD und das mögliche Ende der Großen Koalition. Erst wenn die Hausaufgaben gemacht sind. Und dann am späten Abend als Teil der Presseschau von Arno Orzessek:

ALLGEMEINE ZEITUNG, Mainz:

„Die aktuelle Trio-Lösung ist wahrhaftig nicht der Weisheit letzter Schluss. Vermutlich soll sie Solidarität, Gediegenheit, ein breites Verantwortungsfundament signalisieren. In Wahrheit ist sie eher Verlegenheit und die Angst, eine oder einen allein ins Feuer der kommenden Monate zu schicken. Und: Alle drei sind nun, da sie eine finale Bewerbung um den Parteivorsitz ausschließen, böse formuliert: lame ducks. Dass Schwesig, Stand jetzt, absagt, ist eine Sensation – und schade. Man hätte geschworen, sie will das Amt, unbedingt. Und den Versuch wär’s wert gewesen“

BERLINER MORGENPOST:

„Die SPD muss die Courage haben, die alte Garde bald in Rente zu schicken. Andrea Nahles hat selbst den Anfang gemacht, den Exit aus der Politik gewählt. Sie wurde Opfer ihrer eigenen Machtspielchen und einer Stimmung in Partei und Bundestagsfraktion, die teils verletzend, bösartig und hoffnungslos ist. Wenn die SPD so weitermacht, ist bei knapp 16 Prozent noch lange nicht Schluss. Dann geht es Richtung zehn Prozent“

BONNER GENERAL-ANZEIGER:

„Das allergrößte Problem ist der Mangel an geeigneten und erfolgversprechenden Bewerbern. Die SPD sucht jemanden, der sie aus der Groko führt, ihr programmatische Perspektiven bietet, die Flügel und Gruppen eint und dazu noch Wahlen gewinnt. Selbst in den guten Zeiten gab es in der SPD nur selten Politiker, die dieses Profil erfüllten.“

FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG:

„Die SPD entpuppt sich so als Partei, die zwar gern den Anschluss an gendergerechte Identitätspolitik sucht, darüber aber vergessen hat, dass Solidarität, Gleichberechtigung oder Feminismus nicht als kulturelles Gedöns, sondern als materielle Leistungen gemeint waren – jedenfalls noch unter den Enkeln und Urenkeln von Bebel.“

GENERAL-ANZEIGER, Bonn:

„Das allergrößte Problem ist der Mangel an geeigneten und erfolgversprechenden Bewerbern. Die SPD sucht jemanden, der sie aus der Groko führt, ihr programmatische Perspektiven bietet, die Flügel und Gruppen eint und dazu noch Wahlen gewinnt. Selbst in den guten Zeiten gab es in der SPD nur selten Politiker, die dieses Profil erfüllten. Derzeit ist niemand erkennbar, der dem auch nur nahekommt. Die Perspektiven für die Partei bleiben daher kurz- und mittelfristig düster“

NEUE OSNABRÜCKER ZEITUNG:

„Ungeschickt ist das nicht [...] Indem niemand aus dem neuen Führungstrio der SPD später für den Vorsitz kandidiert, übernehmen die drei schon vorab die Verantwortung für die Niederlagen bei den Landtagswahlen in Sachsen und Brandenburg im Herbst. Die Sozialdemokraten setzen auf Sicherheit.“

NÜRNBERGER NACHRICHTEN:

"Die SPD muss sich aus der Großen Koalition befreien und sozialdemokratische Antworten auf Digitalisierung, Klimakrise und eine Sieger und Verlierer produzierende Globalisierung des Kapitalismus entwickeln. Solange es Menschen gibt, die an der Ungerechtigkeit der Verhältnisse dieser Welt leiden, gibt es Raum im Parteienspektrum für sozialdemokratische Antworten“

PFORZHEIMER ZEITUNG:

„Diese GroKo ist am Ende. Ihr fehlen Visionen, ihr fehlt ein großes, gemeinsames Ziel, ihr fehlen Mut und politisches Gespür. Heute zeigt sich, dass jene recht behielten, die vor eineinhalb Jahren energisch gegen eine Neuauflage der Großen Koalition wetterten. Sie ist Gift für die SPD, sie ist aber auch Gift für Deutschland, das erst einer gefühlten Lähmung unterlag, die mittlerweile einer echten gewichen ist. Klimapolitik, Digitalisierung, Infrastruktur, Bildung – bei den Themen, die die Zukunft entscheiden, gibt es kaum Fortschritte. Wie auch, bei Parteien, die vor allem mit sich selbst beschäftigt sind? Es wird Zeit für einen Neuanfang. Nicht nur in der SPD. Sondern in Deutschland“

RHEINPFALZ, Ludwigshafen:

„Die SPD muss sich von der Vorstellung lösen, dass ein Wechsel an der Spitze auf wundersame Weise schlechte Wahlergebnisse in gute Zahlen verwandeln könnte. [...] Nun übernimmt vorerst ein Dreierteam den Job, den Andrea Nahles desillusioniert hingeworfen hat. Ist die SPD aus Schaden klug geworden? Oder haben die Sozialdemokraten nur noch niemanden gefunden, auf den sie ihre Hoffnung werfen können, dass er sie zu neuen, grüneren Ufern führen wird? Letzteres wäre fatal. Zumal mit jedem gescheiterten Versuch eines Neuanfangs die Aufgabe für den Nachfolger noch schwerer wird“

STRAUBINGER TAGBLATT:

„Vielleicht tut die SPD wirklich gut daran, es wie die Grünen mal mit einer Doppelspitze zu probieren. Dann verteilen sich auch der Erwartungsdruck und die Schuldzuweisungen nach Wahlniederlagen etwas besser.“

STUTTGARTER ZEITUNG:

„Die SPD hätte es in der Hand, die Lähmung des Landes zu beenden und den Weg zu einer Politik der klaren Alternativen zu ermöglichen, die für die gesamte Gesellschaft heilsam wirken könnte. Ein Ausstieg aus der Koalition würde auch die Grünen zwingen, endlich die Karten auf den Tisch zu legen und das Spiel mit vielen Optionen zu beenden.“

VOLKSSTIMME, Magdeburg:

„Das würde allerdings voraussetzen, von eingefahrenen Gleisen auf eine neue Spur zu wechseln. Weniger versprechen, aber dafür mehr halten – das sollte dabei die Devise sein. Die SPD wird die Welt nicht retten. Sie hat aber ihren Platz in der Gesellschaft, wenn diese in ihrem Sinne gerechter werden soll. Dazu muss die Partei die GroKo verlassen“

DIE WELT, Berlin:

„Ihr frisches, vermeintlich undogmatisches Auftreten, ihre sympathische Show nährt die Illusion, dass die Grünen jene unschuldige Wette auf die Zukunft sind, nach der es die Deutschen dürstet im zehnten Jahr des Booms. Die Mehrheit der Deutschen ist weiter als die Politik. Im Osten des Landes ist es eine Minderheit, aber auch mit ihr könnte das Land eine aufregendere Fantasie entwickeln: den Gegenentwurf zum GroKo-Allerlei in Grau. Die Grünen könnten beim Fortschreiben des Elends in CDU und SPD am Ende den Kanzler stellen und werden sich aus naheliegenden feministischen Gründen für die durchsetzungsstarke Frau Baerbock entscheiden. Außerdem versteht sie was von Wirtschaft. Heißt es. Mehr muss man im Augenblick nicht bieten, bei der aktuellen Tristesse der Konkurrenz“.

P.S.

Als eine hervorragende Ergänzung zu diesen Meinungsäusserungen hier der Beitrag von Moritz Küpper in den "Informationen am Morgen" des Deutschlandfunks vom 6. Juni 2019 in der Reihe Podium: "Stimmung an der SPD-Basis im Ruhrgebiet":


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