"Nachklapp" zum Sonnentag der Deutschen Einheit

VON Dr. Wolf SiegertZUM Montag Letzte Bearbeitung: 4. Oktober 2004 um 14 Uhr 09 Minuten

 

Im Gegensatz zu vielen vorangegangenen Tagen hatte sich dieser Tag des nationalen Selbstgedenkes dadurch ausgezeichnet: dass es gutes Wetter gab.

Die Erinnerung an die hellblauen Tage der letzten Monate war schon verblasst, bis es dann dieser Sonn- und Feiertag ermöglichte, den öffentlichen Raum wieder als den selbstgewählten Lebensraum auszuwählen.

Das ist es: dieses - aus sich - Herausgehen: diese Möglichkeit, sich aus der Unmmündigkeit herauszubegeben und erstmals an sich selbst und mit den Anderen zu erfahren, was es bedeutet, etwas als seine eigene Sache zu erkennen und dieses "etwas" zu einer öffentlichen Sache zu machen. Das war die entscheidende Tat und Triebkraft der Wende.

Der Mauerfall ist daher "nur" der symbolische Ausdruck der Überwindung der eigenen Abschottung, des Ausbruchs aus und des Aufbruchs der "Nieschen-Gesellschaft". Dieser Wandel macht den entscheidenden und nachhaltigen Moment in der Geschichte dieses Landes auch. Daran zu erinnern, ist gut. Sich dieser Erinnerung produktiv zu bedienen, sicherlich auch. Sich der in der Erinnerung gebliebenen verbalen Versatzstücke zu bedienen und dabei die historische Dimension mit zu vereinnahmen, ist nicht so gut.

Die Übernahme des Begriffs der "Montagsdemonstration" für den Protest gegen die Reformen der Sozialgesetzgebung in Deutschland war eine solche vielleicht naheliegende und dennoch falsche Übernahme. Diese verbale Ursupation der eigenen soeben noch miterlebten Geschichte macht deutlich, dass es noch kein ausreichend ausgebildetets eigenes Vokabular gibt, mit dem man sich selbst in "seiner" Gesellschaft reflektieren kann. Vor allem der "Osten" erlebt immer noch die Irrungen und Wirrungen einer Übergangsgesellschaft, in der man vom Denken her in der Demokratie angekommen ist, aber noch nicht vom Lebensgefühl.

Die "gefühlte Volksgemeinschaft" kommt immer noch aus jener Zeit, in der man jemand war, weil man anderen helfen konnte - damit einem auch selbst geholfen würde. Dieser eigentlich im Westen bekanntere Spruch des "Haste was, biste was" feierte - auch nach eigenem Erleben - zu jedweder Gelegenheit tagein tagaus fröhliche Urstände. Nach der Invasion der Besser-Wessis kommt es nun zu einer Implosion der Lebensgefühle. Die in der "Nieschen-Gesellschaft" von einst innewohnende produktive Kraft läuft Gefahr, endgültig "privatisiert" zu werden - und schlimmstenfalls kontra-produktiv.

Dieses war schon "damals" mit ein Grund, warum ich mit dem Fall der Mauer ganz bewußt die meisten meiner "Verbindungen" in die DDR gekappt hatte. Geläutert durch das "Privileg", über viele Jahre als Grenzgänger auch den "anderen Teil Deutschlands" hautnah erlebt zu haben, war mir klar, dass ich meine Rolle als "Beschleuniger des Befreiungsprozesses" in den letzten fünfzehn Jahren in der DDR auf meine Weise und mit meinen Möglichkeiten erfüllt hatte. "Jetzt" - also mit den Ende der achtzige Jahre - oblag es meinen "Brüdern und Schwestern", die selbst entdeckte Freiheit für sich zu erobern, zu erleben und sich selbst darin zu erleben.

Ich hatte meine Rolle als "Entwicklungshelfer zur Selbst-Ermächtigung" erfüllt und konnte - und wollte - zurück gehen, während sich der ganze Schwarm meiner berliner und vor allem westdeutschen Landsleute, Kollegen und Freunde nun gen Osten aufmachte. Ich greife hier ein Bild Joachim Gaucks auf und führe es weiter in dem ich sage: dass jenen mit der Hornhaut an den Knien das Gehen von jenen beigebracht werden sollte, die sich ihre Hornhaut im Westen an ihren Ellenbogen angeschafft hatten.

Dass auch am Sonntag wieder zitierte Bild des 40-jähringen Zuges durch die Wüste ins "gelobte Land" wäre damals noch als Horrorvision in Bausch und Bogen abgelehnt worden. Erst heute, 14 Jahre danach, haben wir allmählich ein Einsehen dahingehend gewonnen, dass wir gerade erst die Hälfte dieses Weges zu einer Nation mit einer gleichgearteten Binnenstruktur hinter uns gebracht haben.

Diese Einsicht gilt selbst dann, wenn es im und für den gesamten Osten Deutschland jenes Wirtschaftswunder gegeben hätte, dass Westdeutschland in den fünfziger Jahren so geprägt hat. Denn selbst jenen, die sich heute als wohlanständige Menschen im Osten eines durchaus gesicherten Lebensabends werden erfreuen dürfen, sind es, die in den letzten Wochen wieder auf die Strassen gegangen sind.

Dabei, so meine Meinung, geht es auch - aber anders als im Westen um sehr viel noch als - um den drohenden individuellen wirtschaftlichen Notstand. Es geht darum, dass Viele es nicht verkraftet haben, heute eigentlich "niemand mehr zu sein". Diese Erfahrung muss bitter gewesen sein, dass auch die neuen Mittel der Kaufkraft nicht wettmachen konnten, was Vielen in grossem Maasse abhanden gekommen ist: gesellschaftliche Anerkennung.

Wenn ich also selbst-kritisch auf diese Zeit zurückblicke, muss ich feststellen, dass ich damals eigentlich auf einem "recht verlorenen Posten" gestanden habe und es mir nicht gelungen ist, die Nachteile einer solchen Position als "einsamer Rufer in der Wüste" ersatzweise vergolden zu lassen. Warum habe ich mich in jenen Wochen und Monaten der ja vom "Osten" so schnell gewollten Übernahme des westlichen Währungs- und Wertesystems nicht dazu entschliessen können, trotz meiner nun plötzlich doppelt privilegierten Voraussetzungen, durch gezieltes "Umrubeln" einen Teil jener Last des Ungemachs in West-Geld aufwiegen zu lassen, das ich in diesen 15 Jahren vor der Wende miterlebt hatte? Dieses Geld hätte mir sicherlich helfen können, Pflaster zu kaufen für das Bedecken jener Stellen, an denen sich bei so vielen um mich herum ein Menge Hornhaut gebildet hat...

WS.


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