Der Wecker klingelt um 4 Uhr 30. Es ist Zeit aufzustehen, um noch rechtzeitig den Sprinter-Zug von Berlin-Zoo nach Frankfurt/Main zu erreichen. Während der Morgentoilette läuft im INFOradio [1] die Medienkritik von Thomas Hollmann unter dem Titel: „Wir werden Weltmeister...“. Sein Thema: die schon jetzt penetrante bis peinliche Präsenz des Themas Fussball-Weltmeisterschaft auf allen Sendern, in den Zeitungen und in der Werbung sowieso.
Kaufen Sie Ihre Dübel auch im Baumarkt, vor dessen Schiebetüren schwarz-rot-goldene Schals im Wind wehen? Ihr Handy haben Sie hoffentlich in dem Elektro-Kaufhaus erstanden, das den Titel holen wird. Das Handy brauchen Sie, um ihre Kollegen anzurufen. Wenn Sie neben Ballack stehen in der Nationalmannschaftskette unseres Telekommunikations-Riesen zusammen mit Millionen Nationalmannschaftstrikot-Trägern. Das Trikot gibt es gratis zum Flatrate-Vertrag dazu. Ja, ist denn schon Weltmeisterschaft?
So gut wie - 154 Tage müssen wir nur noch warten. Das ZDF zählt den WM-Countdown seit September in Sondersendungen runter. In zwei Wochen lädt Johannes B. Kerner zur großen WM-Gala. Warum? Weil es dann nur noch 141 Tage bis zum Anpfiff sind. Und weil die von den Medien dasselbe fürchten wie die von den Media-Märkten - den Anpfiff zu verpassen.
Die WM verheißt Dauer-Quote und Rekord-Umsätze. Alles eine Image-Frage. Wer WM-Sender ist und WM-Baumarkt - der hat gewonnen. So glauben die Fernseh- und Reklamemenschen.
Nicht auszumalen, was noch alles schwarz-rot-gold wird. Wenn es 100 Tage sind, 90, 80, 70. Die Bahn, das Bier, unsere Brötchen - alles kugelrund und deutsch-gefärbt. Günter Netzer liest die Tagesschau, der Sparkassen-Filialleiter trägt eine Kapitäns-Binde und die Fleisch-Verkäuferin schießt uns die Grillwürste mit Stollenschuhen zu.
So wird es werden. Und noch schlimmer. Und keiner weiß, welche Nebenwirkungen die Überdosis WM-Werbung hat. Werden wir farbenblind? Lassen wir uns auswechseln? Dübeln wir den neuen Plasma-Flachbildschirm falsch rum an die Wand?
Das wäre schade. Wir wollen doch sehen, wie wir Weltmeister werden. Oder sind wir es schon? [2]
Im Zug wird nochmals die erste Berliner Zeitung des Neuen Jahres aufgeschlagen, Nummer 1, 62. Jahrgang: eine ganze Abteilung ist dem Rückblick auf das Jahr 2005 gewidmet - und eine weitere allein der Fussball-WM 2006.
Auf Seite 16 dieser Sonderbeilage scheibt Andreas Lesch von der „Herrschaft des Horrors“ [3], von der unbegrenzten Ausdehnung des Themas Fussball über Land und Leute. „Niemand kann dem Wahnsinn entkommen, der längst begonnen hat [...] Es bringt nichts, sich von Stadien fern zu halten [...] Der Horror kommt trotzdem. Er kriegt uns alle“.
Quod erat demonstrandum? Schon beim Besteigen des Zuges schaut einem von der Titelseite des überall ausliegenden DB-„mobil“ MAGAZINs DER BAHN Nr. 01|06 - als „Offizieller Mobilitäts- und Logistikdienstleister“ - "Der Mann des Jahres" [4] an: Jürgen Klinsmann.
Und als die Zeitungen zur Wahl ausgeteilt werden findet sich in der Financial Times an diesem Morgen eine
"
CASUAL FRIDAY
" Kolumne von Ines Zöttl auf der Seite 2. Unter dem Titel: "Ein deutsches Krankheitsbild" [5] spricht sie von einer Identitätskrise des Landes und fragt: „Gehen wir planmässig unter, oder erringen wir diesmal den Endsieg?“ - was, so ist zum Guten der Autorin zu hoffen, ja wohl nur auf die Fussball-WM gemünzt sein kann. Ihre Prognose: „Im Sommer wird die Welt zu Freunden kommen und geschlagen gehen“. Im Sinne von Frau Dr. Merkels Neujahrs-Motto versucht sie gar herauszufinden, was in uns steckt, wird Deutschland mit einer „Borderline-Persönlichkeit“ assoziiert und der Bundestrainer Klinsmann mit Narziss.
Mit solcher Lektüre schliesslich in Frankfurt - dieses Mal mit nur 10 Minuten Verspätung - angekommen, klingt einem das Echo des morgendlichen INFOradio-Kommentars noch gut in den Ohren. Jetzt nur noch auf das Gleis 103 und 2 Stationen mit der S9 bis zur inzwischen in „Stadion“ umgetauften Station „Sportfeld“ und dann noch ein kurzer Weg durch den Wald. In den Sälen 2 und 3 der DFB-Zentrale sind schon die Futtertröge mit den neuen und alten Informationen für den sogenannten Neujahrsempfang des Organisationskomitees der FIFA WM bereitgestellt: genau in jenen Räumen, in denen der Vereins-Vorstand am Freitag, den 20. November 1992 einen Beschluss von damals fast unglaublicher Tragweite gefasst hatte.
Hier sieht man die Dinge naturgemäss anders, sieht sich in einer gesamtpolitischen Verantwortung, weiss um die Wahrung einer Chancen, die "so in den nächsten 50 Jahren nicht noch einmal wiederkommen" werden und denkt gerne auch einmal zurück und erzählt: wie alles begann!
Wolfgang Niersbach, der auf dieser Pressekonferenz am häufigsten zitierte Mann, holt ein geradezu historisches Dokument aus der Tasche: die 1992 verfasste zehnzeilige Presseerklärung in der der Beschluss des DFB-Vorstandes vom Freitag, den 20. November bekannt gegeben wird, sich um die Ausrichtung der Fussball-Weltmeisterschaft in Deutschland zu bemühen. „DFB bewirbt sich um WM 2006“.
Niersbach erinnert sich: damals hätten er und sein Kollege Horst R. Schmidt all ihren Mut zusammengenommen um zum Vorstand zu gehen und das Projekt vorzutragen. „So einfach ist das damals gegangen“ erinnert er sich. „Wir sind darauf gekommen, weil Frankreich gerade den Zuschlag für 1998 bekommen hatte und wir wussten, dass wir 2002 keine Chance hatten und dass Europa nur alle 8 Jahre dran ist.“ Und das Wunder geschah: Horst R. Schmidt und er selber sind mit ihrem Antrag durchgekommen.
"Aber nicht etwa, dass man gleich im nächsten Moment Meldung gemacht habe. Erst drei Tage später ging ein DFB-Pressedienst raus, geschrieben mit einer IBM Kugelkopfmaschine - das war damals das fortschrittlichste Instrument, das es in diesem Hause gab - und da stand dann drin: Der DFB bewirbt sich um die WM. Links oben im Kopf war noch die Telefonnummer des DFB aufgedruckt und da drunter stand TELEX. Wir waren damals schon über Telex zu erreichen..."
"Mittlerweile haben wir Internet, E-Mail, Blackberry: das sogar der geschäftsführende Präsident mit einer Fingerfertigkeit beherrscht, die damals als utopisch galt. Aber dieses kleine Beispiel im Bereich der Medien mit dem Telex zeigt: wir kommunizieren heute unglaublich schnell, unglaublich offen und unglaublich transparent miteinander. Aber eines ist geblieben: das Ereignis; der Sport. Das Ereignis, um das sich alles dreht. Und das muss auch so sein."
Am Nachmittag um 16:47 Uhr war die zusammenfassende Presseverlautbarung über das Einläuten des WM-Jahres 2006 im Netz samt Fotos veröffentlicht - und dieser Text alsbald nach dem Eintreffen des Zuges in Berlin. Herr Klinsmann - einst ein engagierter Verfechter des Einsatzes der neuen I&K-Technologien im Rahmen der D21-Initiative - hat es ja dem Leser des "mobil"-Heftes auf einem Foto schon vorgemacht:
Die Unterzeile auf der Seite 45 des Heftes mobil 01|2006 beginnt mit der Frage: "Demnächst online?" und führt den Satz fort mit "Auch Jürgen Klinsmann nutzt den Zug als Büro". Dazu korrespondierend der Link zu einer PDF-Datei mit vergleichbaren Fotos des Autor vor und "an seinem mobilen Arbeitsplatz" aus dem Jahr 2003; erschienen unter dem Titel: Urlaub in Digitalien .