Medien wider das Vergessen

VON Dr. Wolf SiegertZUM Montag Letzte Bearbeitung: 15. Januar 2015 um 22 Uhr 26 Minuten

 

Am Sonntag, den 8. Februar wurden im Deutschlandfunk als "Interview der Woche" Ausschnitte aus einem Gespräch, ja einer Diskussion von Jacqueline Boysen mit Kulturstaatsminister Bernd Neumann gesendet und in Schriftform im Internet publiziert.

Darin geht es unter anderem um die folgenden Themen:
 Erfolge der deutschen Filmwirtschaft
 die Finanzierung der Kultur
 den Stellenwert der Kultur in der Großen Koalition
 die Verankerng der Kultur im Grundgesetz als Staatsziel
 die Geschichtspolitik
 das Demokratieverständnis heute
 die Integration von Migranten in Deutschland
 das Unwissen Jugendlicher über das eigene Land
 die Parteiarbeit und die Parteienlandschaft
 die mahnenden Äußerungen der Bundeskanzlerin an die Adresse des Papstes.

Aussagen, die aus der Sicht der Redaktion von besonderem Interesse sind, wurde hier in Fettschrift herausgehoben.

Jacqueline Boysen: Herr Neumann, als Kulturstaatsminister - wie das Amt, das Sie ja seit nunmehr fast vier Jahren innehaben, landläufig genannt wird -, als Beauftragter also für Kultur und Medien, haben Sie von Anfang an aus Ihrer Neigung zu einer Sparte der Kunst nie ein Hehl gemacht: dem Film. Am Donnerstag haben wir die Berlinale eröffnet, und an dieser am Donnerstag eröffneten Berlinale sehen wir: Der Film ist nicht nur ein Festival für Cineasten und Freunde des Glamours, sondern längst auch in Deutschland ein Wirtschaftsfaktor. Wie krisensicher ist denn die deutsche Filmbranche?

Bernd Neumann: In Zeiten, wo sich eine weltweite Krise zeigt, wo man nicht abschätzen kann in allen anderen Bereichen, wie sie sich im Laufe der nächsten Monate entwickeln wird, kann ich auch keine Prognose über die Situation in der Filmwirtschaft abgeben. Ich kann allerdings ausgehen von dem Status jetzt: Der deutsche Film, die deutsche Filmwirtschaft befindet sich auf Erfolgskurs. Gerade bei der Berlinale zeigt sich, dass Deutschland wieder ein international attraktiver Produktionsstandort geworden ist. Die Frage, die Sie gestellt haben, ist: Wie kann sich die Finanz- und Wirtschaftskrise in diesem Bereich bemerkbar machen? Darauf würde ich erst einmal antworten: Durch die Art der Förderung, durch die Förderstruktur in Deutschland ist die Filmbranche gut gerüstet. Warum? Das, was hin und wieder kritisiert wird, nämlich der hohe öffentliche Förderanteil, wird in solchen Krisensituationen zu einem Vorteil. Sie müssen wissen, dass der überwiegende Teil von Filmproduktionen, bei kleineren unabhängigen Produktionen ja fast 100 Prozent, durch öffentliche Gelder finanziert wird - durch Gelder der Filmförderanstalten der Länder, durch mein Haus, durch die Filmförderanstalt. Diese Zuschüsse werden sich nicht ändern, im Gegenteil. Ich konnte ja erst durchsetzen, dass unser großer Filmförderfonds, der jeweils für drei Jahre 180 Millionen Euro beinhaltet, wiederum drei Jahre fortgesetzt wird. Das heißt, die Grundsicherung ist aufgrund des hohen öffentlichen Finanzierungsanteils gesichert. Ich höre nur von den Filmleuten, dass sie sagen: Wir sind ganz optimistisch, weil - in schlechteren Zeiten gehen die Leute mehr ins Kino. Also, ich neige im Augenblick nicht dazu, düstere Prognosen abzugeben. Sicherlich wird es hier und dort Einbrüche geben, im Augenblick sieht’s bestens aus. Lasst uns die Berlinale feiern und den guten Erfolg des deutschen Filmes würdigen.

Boysen: Jetzt haben Sie es schon selbst angedeutet: Die Unterhaltungsindustrie könnte sogar von der Krise profitieren, schlicht und ergreifend, weil das Bedürfnis nach Unterhaltung, nach Ablenkung groß ist. Die Ufa profitierte eine Zeitlang, zumindest zu Beginn der 20er Jahre, davon und erlebte nicht zuletzt deshalb ihren Aufschwung. Sehen Sie ein solches Phänomen denn heute schon? Sie sagten, Sie hörten davon, was heißt das?

Neumann: Das kann man so nicht belegen, sondern das sind Meinungen, die ich aus der Branche höre. Aber was die derzeitigen Zahlen angeht, gibt es einen steigenden Trend beim Umsatz im Kino, die Zuschauerzahlen steigen im Gegensatz zum vorletzten Jahr wieder an. Und ich höre von den Produzenten, auch von denen, die international Koproduktionsabkommen abgeschlossen haben, dass ihre Auftragsbücher gut ausgestattet sind. Nun muss das alles nicht so bleiben, aber ich will mal so sagen: In diesem und im nächsten Jahr müssten wir uns, was den Filmbereich betrifft, ganz gut über Wasser halten können.

Boysen: Was tun Sie, um den deutschen Autorenfilm zu stärken?

Neumann: Mein primäres Interesse ist ja ohnehin von Anfang an darauf gerichtet worden, den deutschen Film zu stärken. Und beim deutschen Film habe ich besondere Sympathie für die kleinen unabhängigen Produzenten, auch die, die vom Fernsehen noch ein wenig unabhängig sind, falls es das überhaupt gibt. Und dazu gehören die Autorenfilmer. Aber was diese Kategorie angeht, bin ich noch optimistischer als bei den großen Produktionen. Da dieser Teil ja doch in hohem Maße bezuschusst wird, bin ich nicht skeptisch, dass es auch nicht weiter ein umfangreiches Betätigungsfeld gerade für den Autorenfilm geben wird.

Boysen: Verlassen wir mal das Terrain Berlinale und Film. Der Staatsminister im Kanzleramt ist als Beauftragter für Kultur und Medien für die Finanzierung wichtiger Kultur- und Kunstereignisse im Lande verantwortlich. Sie haben, Herr Neumann, den Etat in den vergangenen Jahren kontinuierlich erhöhen können und damit, wie einer meiner Kollegen hier im Deutschlandfunk so schön gesagt hat, "das Wunder von Bernd" vollbracht. Auch für den nächsten Haushalt haben Sie eine Etatsteigerung angekündigt. Müssen Sie sich angesichts der Finanzkrise um die Finanzierung der Kultur Sorgen machen? Wie realistisch ist denn Ihr Versprechen, Ihre Ankündigung noch?

Neumann: Ja, da ich in den letzten zurückliegenden drei Jahren alle meine Ankündigungen eingehalten und sie mehr als erfüllt habe, gehe ich davon aus, dass auch der nächste Kulturetat des Bundes eine Steigerung vorsieht. Da bin ich optimistisch - wie überhaupt ein wichtiges Ziel zu Beginn meiner Amtszeit war, die Rahmenbedingungen für die Kultur zu verbessern. Und das fängt nun mal auch mit dem Geld an. Nicht alles ist mit Geld zu machen, aber es ist ganz wichtig, dass eine gewisse Grundsicherung da ist für unsere Kultur. Eine andere Frage ist, welche Auswirkungen wird die Finanz- und Wirtschaftskrise auf die Kultur insgesamt haben? Natürlich - irgendwie wird sie Einfluss nehmen. Aber auch hier ist das Fördersystem in Deutschland ein Vorteil gegenüber der Situation in Amerika. In den Vereinigten Staaten sind die Ausgaben für Kultur nur zu 10 Prozent etwa staatlich finanziert. 90 Prozent ...

Boysen: Das Verhältnis ist bei uns anders herum ...

Neumann: ... ja, 90 Prozent müssen über Sponsoren und Spenden etc. hereingeholt werden. Dass dies in einer Wirtschafts- und Finanzkrise sich bemerkbar macht, kann man bereits in Amerika verfolgen: Leute werden entlassen, Museen und Theater sollen geschlossen werden. Dies alles wird in dieser Form bei uns nicht passieren, denn mehr als 90 Prozent der Kulturausgaben in Deutschland werden durch die öffentliche Hand finanziert - Länder, Gemeinden, Bund. Natürlich - wie gesagt: Es wird sich bemerkbar machen, aber das wird unser gesamtes Kulturfinanzierungssystem nicht auf den Kopf stellen. Insofern haben wir hier auch eine wesentlich gesichertere Ausgangsbasis als in vielen Ländern der Welt.

Boysen: Herr Neumann, inwieweit können denn Kultureinrichtungen vom Konjunkturpaket II profitieren?

Neumann: Ja, ich hoffe, wie alle anderen Einrichtungen auch - in dem Falle ja in dem Bereich Bau, Investition ...

Boysen: Sehen Sie da Beispiele, Sie haben ja große Bauvorhaben - wenn ich Sie da unterbrechen darf - in Ihrem Portfolio gibt es ja große Vorhaben, die etwas zu tun haben mit Bau, denken wir an die opulente Förderung für die großen kulturellen Flaggschiffe in Berlin. Denken Sie auch an kleinere Einrichtungen?

Neumann: Die Länder und Gemeinden erhalten ja in Milliardenhöhe Summen pauschal für Investitionen. Und wir haben sie aufgefordert, hier auch den kulturellen Bereich einzubeziehen. Ich gehe davon aus, dass man das tun wird. Zum zweiten haben wir im Rahmen dieses Konjunkturprogramms eine Reihe von Projekten angemeldet, und im Augenblick wird das in der Verantwortung des Bauministers sortiert. Und ich gehe davon aus, dass wir hier auch davon profitieren werden. Also, das kommt ja noch hinzu. Wenn ich von der Steigerung meines Etats im nächsten Jahr sprach, da meinte ich den generellen Etat. Jetzt reden wir ja über das, was oben drauf kommt. Und wenn das dann gelingt ...

Boysen: ... als Ausgleich möglicherweise notwendig werden ...

Neumann: ... als Ausgleich, und das wird ja auch zusätzlich der Kultur dienen, und ich glaube schon, dass da hier und dort einiges für die Kultur abfällt.

Boysen: Wir reden übers Geld, Herr Neumann, aber eigentlich rühren wir an eine ganz prinzipiellen Frage der Politik und der Gesellschaft: Welchen Stellenwert räumen wir der Kultur ein? Welchen Stellenwert räumt denn die Große Koalition der Kultur ein - oder was würde sich ändern, wenn der Kultur - wie viele ja verlangen - ein eigenes Ressort, also ein "echtes" Ministerium, in Anführungsstrichen, zugestanden würde?

Neumann: Sie haben völlig zu recht zum Ausdruck gebracht, dass die Finanzierung von Kultur ganz wichtig ist, aber nicht alles. Dieser Rahmen, von dem ich gesprochen habe, wird ausgefüllt durch die Kulturschaffenden selbst, durch ihre Kreativität, durch ihre Ideen usw.. Und im Übrigen habe ich neben der Frage der Erhöhung der Mittel viele Themen aufgegriffen, inhaltliche Themen, um sie voran zu bringen, die nicht immer was mit Geld zu tun haben. Nach diesen drei, vier Jahren - glaube ich - kann ich sagen, dass ich ein Stück dazu beigetragen habe, dass der Stellenwert, mindestens auf nationaler Ebene, der Kultur doch ein Stück gestiegen ist. Ich selbst sehe keine riesigen Vorteile, wenn die Struktur meines Amtes verändert würde. Okay, ich würde dann den Titel "Bundesminister für Kultur" erhalten gegebenenfalls - jetzt bin ich Staatsminister für Kultur oder für Kultur und Medien -, aber in der eigentlichen Tätigkeit würde überhaupt keine Veränderung stattfinden. Warum nicht? Ich habe auch jetzt einen eigenen Etat, ich kämpfe auch jetzt mit dem Finanzminister jährlich um die Erhöhung meines Etats. Ich entscheide völlig autonom, nur bin ich in der Struktur dem Bundeskanzleramt zugeordnet. Wenn das nicht mehr so wäre, müsste ich her ausziehen. Und das will ich gar nicht. Wissen Sie, es ist ein Vorteil. Also erst einmal ist es eine gute Adresse, im Zentrum der Macht arbeiten zu dürfen. Ich habe dadurch eine unmittelbare Beziehung zur Bundeskanzlerin. Und wenn ich das alles zusammen nehme, bedarf es keiner strukturellen Veränderung dieses Amtes. Es ist so wie es ist, ich vermute mal, es bleibt so wie es ist. Ich möchte ...

Boysen: Das betrifft jetzt, wenn ich Sie da noch mal unterbrechen darf, das betrifft die Struktur Ihres Amtes. Etwas anderes ist die Regierungskonstellation. Könnten Sie sich aus Sicht des obersten Kulturpolitikers des Landes in einer anderen Regierungskoalition einen größeren Spielraum für Ihre Belange vorstellen?

Neumann: Ach, wissen Sie, man kann sich immer vorstellen, dass man auch mehr zu sagen hat und dass man für mehr verantwortlich gemacht wird. Entscheidend ist nicht, wer jeweils die Federführung hat, sondern wie stark Sie sich einbringen. Mein Ressort - ich selbst bin im Rahmen der Meinungsbildung des Kabinetts in alle Fragen der Kultur integriert. Ich bin mit den Bereichen, die ich zu verantworten habe, voll ausgelastet, ich bin zufrieden. Und wenn man meint, hier und dort sollte ich zusätzlich Verantwortung bekommen, bin ich gern bereit, das anzunehmen.

Boysen: Herr Neumann, hätten Sie bessere Karten in der Hand, wenn wir ein Staatsziel Kultur im Grundgesetz verankert hätten? Sie haben sich auch dafür stark gemacht, Ihre Partei in weiten Teilen nicht. Diese Debatte hat auf dem letzten CDU-Parteitag neue Nahrung bekommen, als der Parteitag die Forderung aufstellte, das Deutsche solle grundgesetzlich geschützt werden. Wie müssen wir denn das verstehen, ist das ein erster Schritt in Richtung Staatsziel Kultur doch im Grundgesetz?

Neumann: Also ich gehöre zu denjenigen, die die Aufnahme der Kultur als Staatsziel befürworten - nicht im Glauben, dass dann plötzlich die jeweiligen Finanzminister ihre Kassen größer öffnen, sondern um noch mal den Stellenwert der Kultur insgesamt für unser Land herauszuheben. Aber wir sollten nicht mit zusätzlichen Forderungen das Grundgesetz belasten, denn es gibt bereits engagierte Leute aus dem Sport, die sagen: Wenn Kultur, dann auch Sport. Dann gibt es eine Initiative der Jüngeren, die sagen: Es muss auch etwas zur Nachhaltigkeit und zur Generationengerechtigkeit gesagt werden. Und das ist eben die Argumentation von unseren Verfassungsleuten, von unseren Juristen, dass sie sagen: Hände weg und nicht dauernd Änderungen.

Boysen: Ich hatte ja gefragt auch nach der Sprache und ihrer Verankerung im Grundgesetz .

Neumann: Ja, das ist in eine ähnliche Kategorie einzuordnen. Wissen Sie, diese ganzen Diskussionen sind doch größtenteils sehr theoretisch. Sie haben eher proklamatorischen Charakter, und mir ist es wichtiger, mich auf die konkrete Arbeit zu konzentrieren. Das tue ich, und deshalb glaube ich, dass - wie man auch immer entscheidet - die Kultur wichtig ist und auch wichtig bleibt.

Boysen: Herr Neumann, zu Ihren Aufgaben als Beauftragter für Kultur und Medien gehört die Geschichtspolitik. Wir sollten einen Blick auf die historischen Daten dieses Jahres werfen. Am 11. August des Jahres 1919 wurde die Weimarer Verfassung unterzeichnet, auf die sich 1949 die Väter und Mütter des Grundgesetzes beriefen. Also, wir begehen in diesem Jahr 60 Jahre Grundgesetz, wobei die Gründung der Bundesrepublik natürlich nicht zu denken ist, ohne auch wahrzunehmen, dass am 7. Oktober des selben Jahres 1949 die DDR sich konstituierte, woran im Zusammenhang wiederum mit dem jüngsten der historischen Daten, dem Mauerfall 1989, dann zu erinnern sein wird. Was planen Sie zur Würdigung dieser Ereignisse?

Neumann: Wir werden nicht nur den 23. Mai, das ist der Tag, an dem hier in Berlin ein neuer Bundespräsident gewählt wird und das ist der Tag, an dem vor 90 Jahren die Weimarer Verfassung in Kraft trat, diesen Tag dazu nutzen, im Rahmen eines Bürgerfestes uns auch selbst mit unseren Einrichtungen zu präsentieren. Anlässlich dieses Datums, 60 Jahre Grundgesetz, werde ich alle unsere Einrichtungen, unsere Zuwendungsempfänger, das sind fast 60, bitten und auffordern, einen Tag der offenen Tür zu machen am 23. Mai, damit nicht alles nur in Berlin stattfindet. Darüber hinaus werden die von uns finanzierten Einrichtungen wie das Deutsche Historische Museum hier in Berlin, wie das Haus der Geschichte, wie die Kinemathek, wie die Robert-Havemann-Stiftung, wie die Stiftung Aufarbeitung SED-Diktatur, um nur einige zu nennen, die werden zu unterschiedlichen Themen Ausstellungen veranstalten. Das Deutsche Historische Museum wird auf ein weiteres Datum aufmerksam machen, nämlich den 1. September 1939, der Ausbruch des 2. Weltkrieges. Auch hier werden wir gemeinsam in Abstimmung mit Polen eine Ausstellung veranstalten. Das heißt, wir werden die gesamte Bandbreite unserer Einrichtungen, die mit der NS-Diktatur zu tun haben, mit den KZ-Gedenkstätten und damit mit der Aufarbeitung dieser schrecklichsten Zeit deutscher Geschichte, wie auch die Einrichtungen, die mit der zweiten deutschen Diktatur zu tun haben, von der Mauergedenkstätte an der Bernauer Straße bis hin zu Einrichtungen in Leipzig werden alle diese Einrichtungen dazu nutzen, dieses besondere Gedenkjahr zu würdigen.

Boysen: Die Feiern und Ausstellungen sind das eine. Ich möchte gerne aber doch mit Ihnen erörtern, Herr Neumann, was für eine Bedeutung diese Daten heute für das Demokratieverständnis haben.

Neumann: Ja, die Feiern sind ja nur das Formale. Warum machen wir die Feiern überhaupt? Nicht, weil wir feiern wollen. Vielleicht sind das nicht die richtigen Anlässe. Das können wir ja ganz anders machen. Da sollten wir lieber zum Münchner Oktoberfest oder zum Bremer Freimarkt gehen. Wenn Sie die jüngsten Untersuchungsergebnisse zum Beispiel über das Wissen junger Leute, was die frühere DDR, was die Mauer und ähnliche Dinge angeht, was die SED-Diktatur angeht, wenn Sie die mal sich ansehen, ist das erschreckend. Das kann nicht wahr sein, dass die einfachsten Kenntnisse über die Mauer, die ja erst seit 20 Jahren nicht mehr existiert, nicht mehr gewusst werden. Und deswegen sind wir gefordert. Auch zum Schutz unserer Demokratie.

Boysen: Aber was hilft da? Hilft da das Feiern oder die Darstellungen in Ausstellungen? Wen, Herr Neumann, erreicht man mit den Ausstellungen? Wenn wir bedenken, dass die bei uns lebenden Migranten zum Beispiel mit Daten wie dem 60. Jahrestag der Gründung der Bundesrepublik - das ist ihnen sehr fern - nichts zu tun haben, aber trotzdem sind wir auf der Suche nach einer gemeinsamen Identität. Welchen Beitrag kann der Kulturstaatsminister auf der Suche nach einer solchen Identität leisten?

Neumann: Ja, zum einen, um mich nicht zu überheben: Der Bund kann mit seiner geringen Kompetenz und beschränkten Mitteln nur Punkte setzen, nur Leuchttürme aufzeigen. Aber wir können natürlich nicht mit diesen Aktivitäten ausreichend unsere Geschichte aufarbeiten. Das will ich noch mal deutlich sagen. Das ist das eine. Das zweite ist, ich sehe da eine unmittelbare Verbindung geschichtlicher Erfahrung mit der Frage der Integration von Migranten heute. Denn gerade die schreckliche Zeit des Nationalsozialismus mit der Ausgrenzung von Fremden, mit Rassenhass, mit Antisemitismus, hat ja deutlich gemacht, wohin so etwas führt, und dass die Konsequenz aus all dem nur Toleranz sein kann, dass die Konsequenz aus dem sein muss, dass wir die Fremden sich wohlfühlen lassen in unserem Land, dass wir auf sie zugehen. Deshalb sehe ich da eine unmittelbare Verbindung. Und was das Zusammenwachsen auch der beiden Teile Deutschlands angeht, ist es ganz wichtig, auch für die Mitbürger in der DDR, aber auch für die jungen Leute hier, sie noch mal zu erinnern, so unzufrieden sie manchmal sind, was eigentlich noch vor mehr als 20 Jahren die SED-Diktatur für die Menschen bedeutete. Natürlich gibt es noch zu viel Arbeitslosigkeit und Jugendarbeitslosigkeit. Aber es hat sich die Situation insgesamt, insbesondere auch was die Menschenwürde und Menschenrechte angeht, ja um 100 Prozent verändert.

Und dies in Erinnerung zu rufen, stabilisiert natürlich auch die Einstellung zu unserer Demokratie, fördert Motivation zum Mitwirken. Und Mitwirkung brauchen wir. Und deswegen glaube ich, dass diese Gedenktage nicht nur irgend welche Reminiszenzen an die Vergangenheit sind, sondern dass sie unmittelbare Auswirkungen auf unsere gesellschaftliche Realität haben.

Boysen: Herr Neumann, fast 30 Jahre lang, länger als jeder andere, haben Sie einem Landesverband der CDU, dem Bremer Landesverband, vorgestanden. Sie waren jahrzehntelang im Bundesvorstand Ihrer Partei. Und auch, wenn Bernd Neumann, "Partei-Urgestein" genannt, das Amt in Bremen im vergangenen Jahr abgegeben hat, so möchte ich mit Ihnen doch auch Ihre Partei betrachten. Sie können sich auf eine ungleich größere Erfahrung stützen als die allermeisten der Funktionsträger in der CDU. Wie beurteilen Sie die Ausgangslage der Union als Teil der Großen Koalition zu Beginn des Wahljahres, das uns ja noch vier Landtagswahlen bescheren wird, die Wahlen zum Europäischen Parlament und last not least die Bundestagswahl?

Neumann: Sie haben ja die große Zeitspanne, in der ich Politik mache und mit ihr verflochten bin, genannt. Und in diesen zurückliegenden Jahrzehnten habe ich in Bremen und auch in Deutschland Höhen und Tiefen erlebt, was die Union angeht. Und ich habe in beiden Bereichen, also im Landesparlament, Opposition und Regierung mitgemacht und dasselbe auch auf Bundesebene. Also, ich kenne alle Stationen. Und das ist immer wichtig, dass man sich dann auch richtig einordnet. Zugegeben, man wünschte sich, dass man bei Umfragen und natürlich auch bei Wahlen in den Ergebnissen die alten Zahlen hätte. Wenn Sie die 60er und 70er und auch 80er Jahre nehmen, da war das ja gesetzt, dass die Union in Deutschland deutlich über 40 Prozent lag. Und damals die verlorene Strauß-Wahl, da hatten wir immerhin 44,5 Prozent, da waren wir alle sehr enttäuscht. Und Helmut Kohl hatte mal 1976 als Kanzlerkandidat 48,6 Prozent, wir mussten trotzdem in die Opposition. Aber die Zeiten haben sich geändert. Wenn ich bedenke, dass wir jetzt vor einer Wahl stehen, wo wir den Regierungschef stellen, die Bundeskanzlerin, mit Abstand die anerkannteste politische Persönlichkeit - zu Recht, wie ich finde -, wenn ich sehe, dass unser Konkurrent, die Sozialdemokraten, bei 23 bis 25 Prozent da rumkrebsen, die waren ja früher auch wesentlich höher.

Boysen: An die sind Sie aber gebunden als Koalitionspartner momentan.

Neumann: Nein, Moment mal. Wenn ich dann sehe, dass wir die Chance haben, trotz der Umfragen, die man sich besser wünscht, alle Chancen haben, gemeinsam mit den Freien Demokraten eine Regierungsveränderung vorzunehmen, bei der wir auch in Zukunft den Bundeskanzler stellen, ist dies kein Grund, pessimistisch zu sein. Es ist eine schwierige Zeit. Die Patentantworten, die klaren Antworten von damals sind heute so nicht mehr wiederholbar. Und die Tatsache, dass man auch, was die SPD betrifft, ein Stück einander näher rückt, macht natürlich deutlich, dass es immer schwerer ist, gegenüber den eigenen Anhängern Profil zu haben. Aber ich glaube, dass wir mit Angela Merkel an der Spitze überhaupt keinen Grund haben, pessimistisch zu sein. Wir müssen kämpfen, und das wollen wir auch.

Boysen: Bleiben wir mal bei der Profilbildung. Was muss da passieren, um der Union ein Profil zu geben, das der Wähler klar erkennen kann und das sich unterscheidet von dem des momentanen Koalitionspartners?

Neumann: Ja, ich schaue weniger auf uns, sondern immer auf das Wählerverhalten, auf die Meinungen. Und die Meinungen sind eben ja auch bei einem Teil unserer Anhänger: Ja, wir wünschten uns klarere CDU-Positionen. Und hier ist die Antwort wie folgt: Zum einen sind die ideologischen Gräben, die wir noch zu Adenauers und auch noch zu Kohls Zeiten hatten, geringer geworden, so dass schwarz und weiß so deutlich nicht mehr da sind. Und das ist vielleicht ganz gut so. Die Folge ist, man kann schwerer unterscheiden. Mir fällt es überhaupt gar nicht schwer, uns abzugrenzen von Sozialdemokraten. In meinem Bereich - in der Kulturpolitik habe ich nicht groß drüber geredet, aber ich glaube, dass die Kulturpolitik, für die ich seit mehr als drei Jahren Verantwortung trage, in der Gedenkstättenpolitik, bei der Schaffung einer Dokumentationsstätte für Flucht und Vertreibung und in vielen anderen Fragen schon ein Stück die Handschrift eines CDU-Politikers trägt. Und dies deutlich zu machen, den Wählern zu zeigen, dass es einerseits schwierig ist, mit einem Partner, der in manchen Dingen anders denkt, zu regieren, andererseits ihm aber so die Fronten aufzuzeigen, dass er klar unterscheiden kann. Und wie gesagt, ich glaube immer im Hinblick auch auf den Partner, mit dem wir regieren, unser Hauptkonkurrent, dass die CDU da noch sehr gut aufgestellt ist.

Boysen: Was zeigt denn Ihrer Erfahrung nach die Reaktion aus den eigenen Reihen, aus den Reihen der Union, CDU und CSU, auf die mahnenden Äußerungen der Bundeskanzlerin an die Adresse des Papstes? Tut sich da ein Riss in Ihrer Partei auf? Jetzt gibt es massive Kritik an Frau Merkels Äußerungen. Sehen wir da auf einmal doch das konservativ-katholische Lager und die vielleicht etwas progressivere Seite der protestantischen oder auch urban-unchristlichen CDU?

Neumann: Das glaube ich nicht. Erst mal muss ich sagen, dass ich die Äußerung der Bundeskanzlerin voll teile. Da ging es nicht mehr nur um eine innerkirchliche Frage, sondern da ging es auch um die generelle Frage, ob es zulässig ist, den Holocaust zu leugnen oder nicht. Auch die Kirche steht in öffentlicher Verantwortung.

Boysen: Dass eine solche Frage in der Union eine solche Debatte auslöst, erstaunt Sie das nicht?

Neumann: Das werden Sie immer ertragen müssen, dass in einer so großen Volkspartei es abweichende Meinungen gibt. Und dass gerade von der deutschen Bundeskanzlerin hier ein klares Wort gesprochen wurde mit dem Ziel, dort auch, was den Vatikan betrifft, eine klare Distanzierung vorzunehmen, war aus meiner Sicht völlig richtig. Wir können ja nicht immer erst überlegen, was ist taktisch richtig und was ist taktisch falsch. Es war richtig und es hat ja auch eine Reaktion im Vatikan ausgelöst. Zum zweiten ...

Boysen: Aber jetzt gibt es die Kritik, dass sie sich als Lehrmeisterin aufgespielt habe, so heißt es wörtlich aus den Reihen der CSU.

Neumann: Ja, also wissen Sie, Sie können ja in einer großen Volkspartei nie ausschließen, dass es den einen oder anderen gibt - sonst wäre die Partei ja auch nicht lebendig -, der sich hin und wieder eine andere Äußerung wünscht oder manche Äußerung der Führung nicht teilt. Ich bin aber fest überzeugt, dass die große, große Mehrzahl der Katholiken - hier ging es ja gar nicht um pro-katholisch oder nicht katholisch - die große Mehrzahl der katholischen Mitbürgerinnen und Mitbürger der selben Auffassung ist wie die Bundeskanzlerin und die Äußerung der Bundeskanzlerin für mich eher befreiend gewirkt hat, auch im Hinblick auf die Verantwortung, die wir in Deutschland im Hinblick auf das, was wir dem jüdischen Volk angetan haben, zu tragen haben.


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