Tel Aviv (Tag 2)

VON Dr. Wolf SiegertZUM Samstag Letzte Bearbeitung: 15. Januar 2015 um 23 Uhr 00 Minuten

 

0.

Nachfolgender Text hat eine ganze Reihe von Mutationen durchgemacht.
Der erste Abschnitt war bereits im Vorfeld dieser Reise entworfen worden. Die weiteren Punkte wurden nach und nach mit Beginn des Abfluges in Berlin eingestellt. Nach dem mehrmaligen Zusammenbruch der Verbindungen in dem Viersternehotel bei Tel Aviv, wurden fast alle Teile dieses Textes zerstört. [1] [2]
Dennoch: Aus den Ruinen dieser Gedanken wurden letztendlich neue Texte entwofen und hier nach und nach eingestellt. [3]

I.

Heute ist Sonnabend, der dritte Tag dieser Reise. Noch bevor der grosse Tag der Hochzeit am Sonntag da sein - und dieser als ein privater Anlass von der Berichterstattung ausgeschlossen [4] sein - wird, kann aber durchaus auf jenen öffentlichen Teil der Darstellung verweisen werden, den uns der Vater der Braut zur Kenntnis hat zukommen lassen: Ein You-Tube-Portrait des Vaters des Bräutigams, Gerry Engelhard.

II.

Alles, was zunächst an dieser Stelle und danach aufgezeichnet worden war - beginnend mit einem Live-Berichtes vom Auszug der Israelis aus Berlin am Flughafen Tegel - wurden aufgrund einer Online-Panne gelöscht. [5]

Dieses Gewusel vor den Check-In-Countern gab einen ersten lebhaften Eindruck auf das, was in diesem Land zu erwarten sein würde, das nun in wenigen Stunden erstmals würde betreten werden können. Jetzt, nachdem sich die Voraussetzung erfüllt hatte, Israel erst dann bereisen zu wollen, wenn erstmals eine Einladung in dieses Land vorliegen würde.

III.

Als Reaktion auf den inzwischen vernichteten Textentwurf bleibt aber der Hinweise einer Leserin erhalten, die aufgrund dieses ursprünglich an dieser Stelle verzeichneten Eintrages auf einen Link aus dem Politik-Ressort der Süddeutschen Zeitung verwiest.

Dort war am 22. Mai 2009 ein Text von Thorsten Schmitz unter der folgenden Überschrift erschienen...

"Terroristen als Follower oder Fan: Warum Israels Geheimdienst Surfer davor warnt, private Daten an wildfremde Internetbekanntschaften weiterzugeben.
Islamisten nutzen das Internet nicht nur, um Botschaften zu verbreiten, sondern verstärkt auch mit Hilfe von sozialen Netzwerken
."

um sodann mit den folgenden Zeilen eingeleitet zu werden:

"Israel bietet viel. Strand, Wüste, Berge und einen See. Doch am liebsten surfen die Israelis zu Hause. Einer internationalen Umfrage zufolge verbringt kein Volk soviel Zeit im Internet wie das jüdische. Mehr als 60 Stunden pro Monat treibt sich der Durchschnitts-Israeli im Netz herum, mehr als doppelt so lang wie der Durchschnitts-Amerikaner. Kaum ein Café, kaum ein Amt, kaum eine Familie verzichtet auf den Internet-Zugang. Über 75 Prozent der sieben Millionen Israelis verfügen zu Hause über einen Anschluss, zumeist einen drahtlosen. Den Trieb, mit dem Rest der Welt verbunden zu sein, nutzen nun verstärkt auch Islamisten. Der israelische Inlandsgeheimdienst Schin Beit warnte in diesen Tagen im Fernsehen, im Radio und natürlich auf seiner Internetseite vor Terroristen, die sich auf populären Web-Seiten wie Facebook und Twitter tummelten. "

III.

Gleich am ersten Tag des Aufenthalts war dieses Thema Gegenstand einer sehr ausführlichen Diskussion gewesen, in der dieser Zugang zu den digitalen Welten - speziell im Zusammenhang mit der Ökonomie und Informationspolitik in Israel - einen hohen thematischen Stellenwert hatte. Ausgangspunkt des Gesprächs waren die Eintragungen im Blog

 http://newmedia.cafe.themarker.com/.

Es war interessant im Verlauf des Gespräches uns beide zu betrachten: Immer wieder griff einer von uns in die Tasten des Rechners, an dem jetzt auch dieser Text verfertigt wird uns sucht die eine oder andere URL heraus um auf diesem Wege eine bestimmte Aussage zu illustrieren oder sogar zu begründen.

Und irgenwann kommt der Punkt in dem es um die tieferen Ursachen dieser hohen Internetaffinität in Israel geht. Die These lautet, dass es gerade in dieser Gesellschaft gute Gründe gebe, sich mit der allseits gegebenen Fraktalisierung von Inhalten "im Digitalen" anfreunden zu können, ja, darin eine gewisse Entsprechung der eigenen spezifischen Konstitution zu finden. Denn auch hier sei die diese Gesellschaft nicht wirklich gewachsen, sondern zusammengewürfelt, nicht homogen konstituiert, sondern zur Kooperation verurteilt.

Viele Elemente, die heute für die "Digial Natives" konstitutiv seien, seien auch in den Lebensgeschichten der Menschen dieses Landes angelegt. Das Festhalten am Erlebten sei oftmals fixiert auf Räume, die nicht mehr im eigenen neuen Land als wirklich Erlebte referenziert werden könnten. Es gehe vielmehr um die virtuellen Bezüg einer einst gelebten Realität, die jetzt in Bezug zu setzen ist zu einem Hier und Jetzt, zu einem neu zu organisierenden Leben. So könne dieser Verlust auch und zugleich als eine not-wendige Chance erlebt - und gelebt werden.

Der Wille, die Gegenwart aktiv zu gestalten zu wollen, sei evident. Der Bezug auf die Tradition und die Probleme ihrer Integration - oder gar Bewältigung - ebenfalls. Beide sind Gegenstand einer permanenten Auseinandersetzung.

IV

Und sei es in Form des Humors: Wenn sich zum Beispiel in der TV-Comedy der Gärtner als arbeitsloser Arzt entpuppt, der der Hausherrin nicht an die Wäsche wollte, sondern tatsächlichen helfen um ihr Leiden zu lindern. Dann wirkt diese Verwechslung der Vorurteils des Zuschauers mit der bitteren Wahrheit zwar komisch - und macht doch sogleich deutlich, wie es für jene russische Ärzte unmöglich war, nach ihrer Einwanderung in Israel ihren Beruf fortführen zu können.

Anders als den Ärzten ist es vielen Mitgliedern der russischen Intelligenz Fuss zu fassen, die sich mit ihrem Wissen aus dem Umfeld der Informations- und Kommunikations Technolgie hier haben integrieren lassen. Sie gelten heute in vielen Fällen als vorbildlich, ja gelegentlich gerade zu als penibel, wenn es um die Disziplin und Performance in den EDV-Labors geht.

Der Humor ist die hier - im Gegensatz zu Deutschland - aus der Not geborene, gelebte Dialektik. Der Humor ist eine der wenigen produktiven Chancen, mit den gelebten Widersprüchen umgehen zu können: Im eigenen Leben ebenso wie mit der gesamten um einen herum ins Zwielicht der Gefühle zersetzenden Umwelt.

Das hier Erlebte ist Gegenstand einer sich ständig perpetuierenden "Unaufgeräumtheit", von Aussen wohl allzu vor-schnell als Schlendrian missinterpretiert. Anderseits hört man aber auch hier Sätze wie die folgenden: "Wie gut, dass es noch die Araber gibt, denn so haben wir das Glück als ein noch gut organisiertes Volk zu gelten zu können".

V.

Vieleicht gehen diese Zeilen - nach nur einem Tag in diesem Lande - viel zu tief und lehnen sich viel zu weit aus dem Fenster der eigenen Beobachtungsmöglichkeiten hinaus. Und dennoch: All das, was sich von aussen eher als eher nachteiliger Eindruck festhalten lassen mag, kann so angesichts der Neuorientierung dieses Landes in Bezug auf seine Zukunft in einer digitalen Welt unter ganz anderen Gesichtspunkten gesehen werden.

Selbst Tel Aviv macht sich in bestimmten Momenten den Eindruck, als ob hier "jeder" irgendwann irgendwas angefangen und mit unendlich viel Ehrgeiz schlussendlich auch "hochgezogen" habe. Und das, ohne dabei wirklich an das Ensemble dieser Stadt gedacht zu haben. Jedes Quartier ist (für) sich selber gut genug. Und solange genug Wasser da ist, um allnächtens diese ganze Stadtlandschaft am Leben und tagtäglich am Laufen zu halten ist doch alles in Ordnung - oder?

Auch das mag absurd klingen, wenn man als gerade eingeflogener Goi nach 24 Stunden spannender Unterhaltung mit der Stadt und ihren Menschen Beziehungen beginnt, die sich in einem seltsamen Spannngsfleld zwischen der Wasser- und Breitbandversorgung zu bewegen scheinen. Aber das Ambiente selber setzt das Signal. Von den "Wasserdächern" am Boden des Flughafen-Empangsgebäudes bis hin zu der allgegenwärtigen Präsenz des Internets.

VII.

Die Zukunft mag dieses Zeilen Lügen strafen - das ist das Risiko aber auch dieser Publikation. Aber es wäre ebenso gelogen, wenn sie jetzt so nicht geschrieben werden würden, wie sie sich derzeit als erster Blick in diese Welt geradezu aufzudrängen scheinen.

Daher also nochmals diese erste Kurz-Schluss-Arbeithypothes für die weiteren Begegnungen und Erfahrungen dieser Woche: Die Brüche der eigenen Lebens-Geschichten, die Diskontinuitäten der eigenen Lebens-Erfahrungen, die Absurdität und Bitterkeit des den eigenen Fremden geschuldeten Todes, eines Todes, der so leicht-fertig und doch sogleich so massiv daherkommt wie in einem Ego-Shooter-Game. Und dazu noch der Wille, wie in diesem das neue Leben allzeit - und ggf. gegen Gebühr - wieder parat zu haben.... hier drängen sich allerlei Parallelen auf, die vielleicht zu absurd sind, als dass sie bislang wirklich bedacht worden sind; und die vielleicht dennoch dazu beitragen könn(t)en, nachvollziebar zu machen, warum gerade in diesem Land die Welt der Informations- und Kommunikations-Technologieen so weit avanciert ist.

Anmerkungen

[1Es ist, als ob der Shabbat nicht nur die Menschen, sondern auch die von ihnen genutzten Gerätschaften in Beschlag genommen hätte...

[2Ein Teil der Reaktionen auf die Publikation dieses Tages beziehen sich also auf Teile, die heute in der jetzt veröffentlichten Fassung nicht mehr nachgelesen werden können.

[3Dieser Text wurde fertiggestellt am Ende des Transfers von Tel Aviv nach Jerusalen. Dort am späten Nachmittag angekommen, war dennoch der Zugang auf das gebuchte Zimemr noch nicht möglich. Denn, wie am Counter zu erfahren war: Die dort noch anwesenden Gäste könnten diesen uns zugesprochnen Raum nicht vor 20.15 Uhr freigeben, erst dann sei der Shabbat zu Ende und erst dann sei es ihnen gestattet, für den Raum auch zahlen zu können. [sic!] - Eine Usance, die - wie sich auf Nachfragen herausstellt - in hiesigen Kreisen als ganz und gar "normal" angesehen wird.

[4Wenn es noch eines Arguments für diese schon an und für sich evidente Entscheidung bedurft hätte, der lese bitte bei TeleCrunch nach.
Darin geht es in einer Meldung vom 25. März 2009 auf den Aufruf von MySpace, sich als DAS potenzielle Ehe-Paar zur Teilnahme an DER "ultimate reality series" zu bewerben.
Noch in der gleichen Woche hatten bereits mehr als eine halbe Million Personen diese Seite zumingest angeklickt und geöffnet. WS.

[5Dabei waren diese Texte wahrlich im Schweisse des Angesichts entstanden: Nicht nur der Aussentemperaturen wegen, sondern weil - nach wie vor - sich der Versuch einer Online-Redaktion als ein allzu riskantes Unterfangen herausgestellt hatte.
Dabei ist die durchaus selbstkritisches Fragen angesagt: Warum nur diese Versessenheit, doch und immer wieder direkt online arbeiten, quasi im Moment des Schreibens schon von allen im Netz an-erkannt werden zu wollen? Was ist es, dass einen den Rat all der Kleveren und Klugen immer wieder ausschlagen lässt, die vor solchem Tun aus guten Gründen warnen und sagen, dass die Texte immer zunächst offline vorbereitet, geprüft und dann erst online eingestellt werden sollen? - WS.


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