Rede von Bundeskanzlerin Merkel beim 42. Kongress Deutscher Lokalzeitungen am 10. Mai 2016
Sehr geehrter Herr Dunkmann,
sehr geehrter Herr Botschafter,
liebe Kolleginnen und Kollegen aus den Parlamenten,
meine Damen und Herren,
vielen Dank für die Einladung und die freundliche Begrüßung. Ich freue mich, hier in der britischen Botschaft zu Gast zu sein. Ich glaube, Sie haben mit Ihrem Veranstaltungsort eine gute Wahl getroffen.
Der deutsche Schriftsteller Theodor Fontane, der einige Jahre seines Lebens in London verbrachte, verfasste ein Gedicht mit der Überschrift „Zeitung“, in dem es unter anderem heißt: „Und nichts kann mich so tief empören, als auf Zeitungsschreiber schimpfen zu hören.“ Im Folgenden lässt Fontane die schimpfwütigen Kritiker die vermeintlichen Phrasen aufs Korn nehmen, um dann aber selbst den Schluss zu ziehen: „Aber nehmt uns die Phrasen auch nur auf drei Wochen, so wird der reine Unsinn gesprochen.“ In diesen Worten, so meine ich, steckt viel Wahres. Es gefällt uns nicht immer alles, was in den Zeitungen steht. Dennoch weiten Zeitungen ohne jeden Zweifel den eigenen Horizont. Sie helfen uns, eine differenzierte, abgewogene Meinung zu bilden.
Deshalb können wir uns glücklich schätzen, in Deutschland eine vielseitige Zeitungslandschaft zu haben. Es gibt in Deutschland rund 350 Tageszeitungen – viele davon mit verschiedenen Lokalausgaben. Insgesamt werden rund 16 Millionen Tageszeitungsexemplare verkauft, von denen mit ca. 12 Millionen der weitaus größte Anteil auf lokale und regionale Blätter entfällt.
Die klassische Lokalzeitung ist ein Basismedium, das seine Leserinnen und Leser auf dem Laufenden hält – in der Regel auch über das nationale und internationale Tagesgeschehen, vor allem aber über Ereignisse vor Ort. Wer fühlt sich da nicht angesprochen? Denn wer weiß nicht gerne Bescheid darüber, was sich im näheren Lebensumfeld tut und was einen vielleicht auch direkt und persönlich betreffen könnte? Mit ihrer regionalen Verwurzelung ist die Lokalzeitung Teil des Alltags von Millionen von Menschen. Damit stärkt sie auch Identität. Nicht zuletzt darin liegt wohl der hohe Zuspruch begründet, den Lokalzeitungen auch und gerade im Zeitalter zunehmender Globalisierung genießen.
Die Bedeutung der Globalisierung und die Bedeutung anderer Kulturen nehmen auch hierzulande für den Einzelnen und unsere Gesellschaft erheblich zu. Das gilt zum einen mit Blick auf die Chancen. Denken wir zum Beispiel nur daran, dass wir in Deutschland einen großen Teil unseres Wohlstands einem regen Außenhandel zu verdanken haben. Oder denken wir an die Möglichkeiten zu reisen – wohin auch immer – und zu lernen – wo auch immer. Zum anderen teilen wir als Weltgemeinschaft auch mehr Risiken als vor einigen Jahrzehnten. Entwicklungen anderswo auf der Welt betreffen immer mehr auch uns. Das heißt, immer mehr Länder und Regionen sehen sich vor gleiche Aufgaben gestellt – in der Wirtschaft, beim Klimaschutz, bei Sicherheit und Stabilität. Der grausame Krieg in Syrien zum Beispiel schien uns hierzulande vor fünf Jahren noch sehr weit weg zu sein. Aber spätestens mit seinen Folgen in Form des Flüchtlingsdramas ist uns dieser Krieg sehr nahe gerückt, buchstäblich bis vor unsere Haustüren.
Globale Aufgaben erfordern globale Antworten. Diese zu finden, ist oft sehr schwierig und sehr langwierig. Denken wir nur daran, wie kompliziert es manchmal ist, uns allein in unserem Land auf einen Lösungsweg zu verständigen. Wenn man sich überlegt, dass wir auf der Welt knapp 200 Länder haben, dann kann man sich vorstellen, wie kompliziert es wird, wenn sich diese Länder verständigen müssen.
Die Welt scheint also immer komplexer und unübersichtlicher zu werden. Mit solchen Veränderungen und damit verbundenen Verunsicherungen in unserer Lebenswelt wächst das Bedürfnis nach Orientierung und nach Überschaubarkeit. Zwar ist heute der Zugang zu Informationen leichter denn je, aber auch die Vielfalt an Informationen ist größer denn je. Daher ist die Gefahr, sich gegen eine solche Informationsflut abschotten oder sich nur auf sehr wenige Informationskanäle beschränken zu wollen, nicht zu unterschätzen.
Das heißt, wir müssen Medienkompetenzen entwickeln. Wir müssen lernen, Wichtiges von weniger Wichtigem zu trennen. Es sind verständliche und alltagstaugliche Erklärungen, klare Hintergrundanalysen und Orientierungshilfen gefragt. Darin liegt nach meiner festen Überzeugung eine große Chance für Zeitungen. Daher steht außer Frage, dass wir eine vielfältige, freie, unabhängige und meinungsstarke Presse brauchen.
Infrage gestellt aber wird der Mehrwert einer vielfältigen Medienlandschaft bereits dann, wenn leichtfertig und pauschal die Journalisten, die Zeitungen oder die Verlage kritisiert werden. Wie schnell Kritik unsachlich werden kann, war etwa auf einigen Demonstrationen in jüngster Zeit zu erleben, bei denen Reporter, Fotografen und Filmteams beschimpft, bedroht und attackiert wurden. Das ist beschämend für ein Land, das sich als aufgeklärt ansieht. Dass dies vorgekommen ist, ist auch einer der Gründe dafür, dass wir in der Rangliste der Pressefreiheit herabgestuft wurden.
Besonders aggressive Hetze erleben wir im Internet. In der Anonymität dieses Mediums scheint die Hemmschwelle sehr leicht zu sinken. Journalisten und Redaktionen können davon ein Lied singen. Auch Online-Foren von Zeitungen werden immer wieder für Anfeindungen genutzt, die mehr als die Grenzen des guten Geschmacks überschreiten. Der Moderationsaufwand ist für manchen Forenbetreiber kaum noch zu bewältigen. Einige Tageszeitungen – vor allem lokale Zeitungshäuser – haben darauf reagiert und die Kommentarfunktion auf ihren Internetseiten eingeschränkt oder ihre Online-Foren ganz eingestellt. Dies ist nachvollziehbar, aber es ist eben auch schade, denn wir brauchen auch im Internet eine Kommunikationskultur – und zwar eine, die die Würde des Menschen achtet, wie es in unserem Grundgesetz steht. Ich kann an alle Beteiligten nur appellieren, Online-Foren verantwortungsvoll, tolerant und im Respekt vor anderen zu nutzen.
Vor einer Woche, am 3. Mai, war der internationale Tag der Pressefreiheit. Wer sich weltweit umschaut, der sieht, dass in vielen Ländern Journalistinnen und Journalisten die Möglichkeit fehlt, frei und unabhängig zu arbeiten. In etlichen Staaten ist die Pressefreiheit eingeschränkt. In manchen ist sie überhaupt nicht gegeben. Mancherorts sind journalistische Recherchen nur unter staatlicher Beobachtung möglich. Interviewpartner und Informanten werden eingeschüchtert. Es geht so weit, dass Verfolgung, Gefängnis oder gar Tod drohen. Wer angesichts solcher Gefahren trotzdem für eine freie Berichterstattung einsteht, der hat meinen ganz besonderen Respekt.
Meine Damen und Herren, Pressefreiheit ist elementare Voraussetzung, aber allein natürlich noch nicht hinreichend für tatsächlich guten Journalismus, der von gründlicher und unabhängiger Recherche, von investigativen Fragen, präzisen und ansprechenden Texten, von sachlich fundierten Kommentaren und klaren Standpunkten lebt. Das heißt, Qualität fängt mit Qualifikation an. Die Ausbildung zum Print-Journalisten ist immer noch so etwas wie die Hohe Schule der Medienbranche. Auch viele Lokalzeitungen beteiligen sich daran. Sie fordern den Intellekt ihres Nachwuchses heraus. Sie fördern Begeisterung und Neugier. Sie lehren, kritisch auf das Geschehen zu blicken, Missstände aufzudecken und die Ergebnisse von Recherchen verständlich aufzubereiten.
Gute Journalisten sind und bleiben das wertvollste Kapital von Zeitungen. Das dürfte unstrittig sein. Strittig ist eher die Frage, ob sich die Arbeit von Journalisten für sie selbst in finanzieller Hinsicht als lohnend erweist. Autoren, auch freiberufliche, sind ebenso wie andere Kreative auf eine faire Vergütung ihrer Leistungen angewiesen, wenn sie davon leben wollen.
Genau das ist Gegenstand der geplanten Reform des Urhebervertragsrechts. Die Bundesregierung hat inzwischen einen Gesetzentwurf beschlossen, um eine angemessene Teilhabe von Urhebern an der Wertschöpfung aus ihren Werken sicherzustellen. Aber die Beratungen sind – das können Sie sich leicht vorstellen – nicht trivial. Einerseits geht es darum, die Position der Kreativen zu stärken. Andererseits brauchen wir eine verlässliche Grundlage auch für die Verlage. Sie müssen wirtschaftlich arbeiten können. Dem trägt, so meinen wir, unser Reformvorschlag Rechnung. Da Sie nicht kritisch darauf eingegangen sind, ist es vielleicht auch aus Ihrer Perspektive nicht so schlimm.
Zweifellos aber ist es ein harter Wettbewerb, in dem sich Verlage behaupten müssen. Dabei kommt es natürlich auf geeignete Geschäftsmodelle an, die eine ausreichende Finanzierungsgrundlage bieten. Wir haben viele Diskussionen zum Beispiel über die Verbreitung und den Vertrieb geführt. Ich weiß, dass das ein schwieriges Kapitel ist. Ob und inwieweit zum Beispiel Angebote im Internet etwas kosten dürfen, ist genau zu prüfen. Sicherlich bleibt aber das Anzeigengeschäft als Einnahmenquelle der Verlage wichtig.
Angesichts des Stellenwerts der Medienwirtschaft in unserer Demokratie will die Bundesregierung die Verlage mit all ihren betrieblichen Herausforderungen nicht alleinlassen. Daher haben wir schon in der vergangenen Legislaturperiode Fusionen von Presseunternehmen erleichtert. Durch Zusammenschlüsse lässt sich eine bessere wirtschaftliche Basis schaffen. Wir haben immer auch ein Auge auf die kleinen Verlage geworfen. Geplant ist nun außerdem, betriebswirtschaftliche Kooperationen von Verlagen unterhalb der redaktionellen Ebene zu erleichtern.
Ich weiß, dass sich im Zeitungsgeschäft die Freude über den Mindestlohn in Grenzen hält. Ich bitte deshalb nicht zu übersehen, dass wir mit der Übergangsregelung für Zeitungszusteller eine der wenigen Ausnahmen beschlossen haben. Der Mindestlohn in voller Höhe gilt für diese Berufsgruppe erst ab 2017. Angesichts vieler Abonnementkunden kommt diese Ausnahme besonders den Verlagen von Lokal- und Regionalzeitungen entgegen. Aber die Zeit vergeht. Ich habe verstanden, dass dann eine Herausforderung auf Sie wartet. Ich hoffe trotzdem, dass Sie die Übergangszeit gut nutzen.
Bei den steuerrechtlichen Rahmenbedingungen für die Medienbranche sind wir einen großen Schritt vorangekommen. So gilt bereits für Hörbücher der ermäßigte Mehrwertsteuersatz. Gleiches wollen wir auch für E-Books und E-Paper erreichen. Das betrifft das europäische Umsatzsteuerrecht, das entsprechend geändert werden muss. Das heißt, dass die EU-Kommission einen Vorschlag machen muss, dem alle Mitgliedstaaten zustimmen müssen.
Vor einem guten Jahr haben die zuständigen Ministerinnen und Minister Frankreichs, Polens, Italiens und Deutschlands eine gemeinsame Erklärung zur Gleichbehandlung gedruckter und elektronischer Werke abgegeben. Darin heißt es prägnant – ich zitiere –: „Ein Buch ist ein Buch, ganz gleich, wie es beschaffen ist.“ Es gilt auch: Ein Paper ist ein Paper. Aber weil wir mehr Deutsch sprechen, habe ich jetzt auf das Buch abgestellt. Das lässt sich genauso zu Zeitungen sagen. Erfreulich ist, dass sich inzwischen auch Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker für eine erweiterte Anwendung des ermäßigten Mehrwertsteuersatzes ausgesprochen hat. Für dieses Jahr ist ein Vorschlag zur Modernisierung und Vereinfachung des Mehrwertsteuersystems angekündigt.
Mit Blick auf elektronische Medien und neue digitale Angebote spielt natürlich auch der Datenschutz eine wichtige Rolle. Mit der Datenschutz-Grundverordnung haben wir nun endlich einen EU-weit einheitlichen Rechtsrahmen. Dieser verknüpft Schutzstandards mit vernünftigen Bedingungen für datenbasierte Geschäftsmodelle. Dass das Management großer Datenmengen, das Big Data Mining, eine wichtige Quelle neuer Geschäftsmodelle und Wertschöpfungen wird, ist bekannt. Auch bei der Datenschutz-Grundverordnung waren natürlich Kompromisse notwendig. Das liegt in der Natur der Dinge. Es kommt darauf an, die unternehmerische Freiheit in Einklang zu bringen mit dem Schutz von Daten, der gleichermaßen im Interesse von Unternehmen und Verbrauchern liegt. Jetzt stehen wir vor der Aufgabe, das nationale Recht an die Vorgaben der europäischen Datenschutz-Grundverordnung anzupassen. Dabei behalten wir das Presseprivileg fest im Blick. Daran werden wir nicht rütteln. Das ist ein Gebot der freien Berichterstattung.
Dass wir den Datenschutz in Europa vereinheitlichen, bringt uns auch in Richtung eines digitalen Binnenmarktes voran. Dieses Vorhaben der EU-Kommission unterstützt die Bundesregierung ebenfalls. Denn einheitliche Regelungen helfen uns, Wettbewerbsverzerrungen zu vermeiden und über mehr Rechtsklarheit letztlich auch die Chancen der Digitalisierung besser zu nutzen.
Mit dem digitalen Wandel ist für Zeitungsverlage von Anfang an die Aufgabe verbunden, zeitgemäße Geschäftsmodelle zu entwickeln. Auch lokale Printmedien finden längst ihre Ergänzung durch Apps und Internetangebote. Davon – das wissen Sie besser als alle anderen – fühlen sich vor allem auch jüngere Lesergruppen angesprochen. Insgesamt sind rund 45 Prozent der Bevölkerung über 14 Jahren auf den Internetseiten der Zeitungsverlage unterwegs. Etwa 65 Prozent greifen zur gedruckten Zeitung. Es gibt also eine Annäherung. Das heißt, die Rechnung vieler Verlage geht auf, die auf ein Miteinander und Nebeneinander gedruckter und elektronischer Angebote setzen.
Die Erfahrung ist also, dass klassische Medien von neuen Medien zwar bedrängt, aber keineswegs verdrängt werden. Der Wettbewerb führt vielmehr zu einer Differenzierung bisheriger Angebote und schließlich zu einer Koexistenz der verschiedenen Medien, die sich bezahlt machen kann. So ermöglicht das Internet traditionellen Zeitungen eine neue Reichweite. Und umgekehrt gewinnen digitale Angebote durch die Qualität der Zeitungsredaktion.
Auch wenn ich mich wiederhole: In der sich wandelnden Medienwelt bleibt guter Journalismus ein wichtiger Erfolgsfaktor und als solcher eine unverzichtbare Konstante. Diesen Erfolgsfaktor zeichnen nicht nur intellektuelle und handwerkliche Qualitäten aus, sondern auch ein klares Berufsethos. Dies umfasst Seriosität, Unbestechlichkeit, Gründlichkeit der Recherche ebenso wie eine klare Trennung redaktioneller Inhalte und Werbung. Zu Kommunalpolitikern sage ich oft, dass es gar nicht so einfach ist, Kommunalpolitiker zu sein, weil man mit seinen Handlungen immer wieder zum Beispiel beim Bäcker oder im Gasthaus direkt zur Rede gestellt werden kann. Ähnliches gilt sicherlich auch für viele Lokalredakteure, die stadtbekannt oder ortsbekannt sind und sich auch dauernd rechtfertigen müssen. Das heißt also, Unbestechlichkeit und Unabhängigkeit bei täglicher Begegnung mit seinen Lesern zu wahren, ist manchmal sicherlich ebenso schwierig wie für Bürgermeister. Aber es geht letztlich um Glaubwürdigkeit.
Ich freue mich deshalb darüber, dass gleich das Thema Ihrer „Medienpolitischen Stunde“ das „hohe Gut der Glaubwürdigkeit“ sein wird. Das kann ich nur begrüßen. Denn wir müssen uns in der Tat der Frage stellen, woher so manches Misstrauen gegenüber bewährten demokratischen Institutionen kommt und wie wir es abbauen können. Vor dieser Aufgabe stehen wir in der Politik ebenso wie Sie in den Medien.
Deshalb wünsche ich Ihnen gute, anregende Diskussionen und einen guten Verlauf Ihres Kongresses. Nutzen Sie die Gegebenheiten einer so schönen Botschaft, ohne die Botschaft am Arbeiten zu hindern. Ich wünsche in der gebotenen Unabhängigkeit von Politik und Lokalmedien alles Gute. Ich denke, diese guten Wünsche sind noch keine Einmischung in Ihre unabhängige Tätigkeit. Alles Gute für die Zukunft.