Leipzig und die MdbK-Bilder einer Ausstellung

VON Dr. Wolf SiegertZUM Donnerstag Letzte Bearbeitung: 1. August 2019 um 14 Uhr 46 Minutenzum Post-Scriptum

 

I.

Das ursprünglich schon seit längerem avisierte Ziel, die DNB, wurde auf dieser Reise "links" liegen gelassen. Das gilt auch für weitere Adressen und Personen im Umfeld rund um die Leipziger Messe.

Stattdessen führte die Fahrt direkt in eines der nahegelegenen Parkhäuser und der Weg von dort aus direkt ins Museum der bildenden Künste, MdbK, Leipzig [1], das an diesem Tag in der Zeit von 12 bis 20 Uhr geöffnet hatte.

Anlass ist die Ausstellung: "Point of No Return. Wende und Umbruch in der ostdeutschen Kunst." Sowie eine für 17 Uhr angesetzte Führung, die sich speziell an die Senioren der Stadt wandte, auch wenn sie heute natürlich unter dem moderneren Titel "65+" firmiert.

II.

Wie gut, sich auf dem Weg dorthin zuvor nochmals ein wenig mit der Geografie vertraut gemacht zu haben. Etwa die Hälfte der auf dem Weg angesprochenen Passanten kannte entweder das Museum nicht oder seinen Standort.

Aber der Bellcaptain vom Steigenberger, der wusste natürlich Bescheid. Auch wenn er aus seiner persönlichen Erfahrung keine Auskunft darüber geben konnte, wie gut die Gastronomie dort vor Ort ausgestattet sei. Aber es gelang, über den rückwärtigen Eingang direkt Zugang zum Café zu erhalten, dort angemessen mit Speis’ und Trank bewirtet zu werden - und von dort aus einen ersten Blick in die "höheren Gefilden der Kunst" zu erhaschen.

III.

Die Ausstellung, am Abend des 22. Juli 2019 eröffnet, war seitdem vielfältig und vielfach kommentiert worden.

Einen guten Überblick finden wir auf der twitter-Seite: https://twitter.com/MDBKLeipzig
aus der hier als pars pro toto diese Zeilen zitiert werden:

Gesondert hingewiesen werden soll an dieser Stelle auf das (Telefon-)Gespräch der "BLAURADIOTRINKERIN" [2] mit einem der Kuratoren, Christoph Tannert, das am 26. Juli 2019 auf diesem Wordpress-Blog veröffentlicht wurde:

III.

In dem hier zitierten Gespräch kommt heraus, dass sich zwei der Kuratoren erst durch die intensive Vermittlungsarbeit des Direktors des Museums als dem dritten Kurator letztendlich soweit haben verständigen können, dass sie Auswahl und Formate haben gemeinsam entscheiden können [3]

In ihrer gemeinsamen Einführung ist zu lesen:

Gerade Leipzig, als der symbolische Hauptort der Friedlichen Revolution, ist prädestiniert für die deutschlandweit erste große Exposition zu diesem Thema, die als wichtigste Ausstellung im 30. Jubiläumsjahr der Friedlichen Revolution gelten kann.

Umso wichtiger ist es, darauf hinzuweisen, dass diese Ausstellung nur bis zum 3. November gezeigt, also enden wird, bevor am 9. November erneut des Falls der Mauer und im Jahr darauf erneut der "Deutschen Einheit" gedacht werden wird: ein "unvorhergesehenes" Datum, so die Begründung von Bettina Hagedorn an den Haushaltsausschuss des Deutschen Bundestages, dafür noch den Betrag von gut und gerne 60 Mio. locker zu machen.

IV.

60 Millionen Euro: wie viele Ausstellungen dieser Art hätten damit noch finanziert, wie viele Lebenswerke damit noch gewürdigt werden können.

Wie gut, dass sich die Peter und Irene Ludwig Stiftung und die Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung rechtzeitig für eine Unterstützung dieses Projektes entschieden haben.

Denn was hier zu sehen - und zu erleben - ist, das ist mehr als eine "Kunstschau" oder gar eine "Show mit Kunst". Es ist eine der grossen und in der späteren Rückschau vielleicht sogar grossartig zu nennenden Chancen, die (Auswirkungen der) Geschichte in den Geschichten dieser Bilder erleben zu können.

Individuell - und als Kollektiv.

Deshalb war es ein ganz besonderer Reiz dieses Tages, die Ausstellung sowohl im Verlauf eines individuellen Rundgangs und sodann nochmals als Gruppe erleben zu können.

Point of No Return. Wende und Umbruch in der ostdeutschen Kunst

Führung in der Ausstellung für die Generation 60+ mit Claudia Klugmann

V.

Das, was im Verlauf dieser Führung zu erleben war, das war das ebenso diskrete und doch immer wieder durchscheinende Erleben dieser Bilder mit ihren Geschichten die sie zu erzählen vermögen, auf dem Hintergrund der eigenen Geschichte aller der in diesem Moment Anwesenden,

Diese Führung war eine Führung durch dieses Museum, durch diese Sammlung, durch die Wirkkraft der Exponate und letztendlich durch die Kollektive Erinnerung, die sich ganz individuell an eben diesen Exponaten spiegelte.

Und das, obwohl den "grossen Meister der DDR-Malerei" nur ein Saal gewidmet war. Aber weil selbst und gerade auch dort erkennbar wurde, wie jeder von ihnen sich dem Auseinanderbrechen des Staates und seiner ideologischen Parameter beschäftigte, beschäftigen wollte, beschäftigen musste - nicht nur, dass mindestens 2/3 aller hier ausgestellten Bilder aus privaten Beständen zusammengesucht worden waren [4], selbst die in diesem einen Raum versammelten "Staatskünstler" waren hier in diesen Bildern plötzlich auf eine geradezu - sie selbst? - erschreckende Art und Weise privat.

VI.

Über jeden dieser Räume gäbe es viele solcher Eindrücke zu berichten. Man hätte mindestens einen ganzen Tag bleiben, noch mehr im Katalog stöbern und sich für diese Arbeit bezahlen lassen müssen... [5] aber auch so lässt sich festhalten, dass die Anordnung der Bilder nach solchen Themen-gruppen und -räumen nicht dazu geführt hätte, dadurch in der Entfaltung einer eigenen Sehweise eingeschränkt zu werden.

Jetzt wird klar, dass auch bei der Öffnung der Räume für eine Zahl von mehr als einhundert Künstlern dennoch viele Fragen nach so manchen Namen offen bleiben mussten, die - trotz bzw gerade wegen der grossen Anzahl dennoch - nicht mit ausgewählt wurden.

Andererseits gab es auch Momente grosser persönlicher Freude, als an den Wänden dieses Hauses die Bilder von Künstlern wieder auftauchten, die der Autor bislang nur in deren persönlichen Arbeitsumgebungen kennengelernt hatte.

Und es gab eine Zustimmung aus vollem Herzen für die Entscheidung, einer Künstlerin einen ganzen Raum einzurichten, sie in gewisser Weise als pars pro toto sprechen zu lassen: Individuell und doch für eine ganze Generation von hier an-versammelten Kolleginnen und Kollegen, MitstreiterInnen und gelegentlich auch verfeindeten Kunstschaffenden.

Es ist gut, sich heute viele dieser Arbeiten wieder unvoreingenommener ansehen zu können, sie nicht länger nur nach ihrer politischen, sondern auch nach ihrer formalen Mach-Art zu befragen, vielleicht auch zu bewerten.

VII.

Vielen aus dem Westen ist vielleicht nicht klar, welcher Art von Aufwand es bedurft hatte, in der DDR überhaupt eine Ausbildung zu erhalten und danach dann auch in die Förderung aufgenommen zu werden. Auch als nicht staatstragender Künstler war man ein "Staats-Künstler". Nicht nur, dass ein "Niemand" die Absicht gehabt hätte, eine Mauer zu bauen, es hätte seither auch fast niemand die Ansicht haben sollen, eben diese Mauer auf der Leinwand zur Darstellung gebracht. Als dieses dann doch geschah - in rosapanterfarbenem Pink - war der Urheber reif für’s Berufsverbot und konnte nur Dank der Unterstützung seiner Frau weiter leben.

Nicht (mehr) ausgestellt zu werden: Wer entscheidet darüber und mit / aus welchen Gründen? Wenn jetzt ein für eine Ausstellung in Leipzig ausgewählter Maler wegen seiner Affinität zu Positionen der AfD aus eben dieser Kunstschau wieder ausgeladen wird - ist das dann eine "DDR 2.0"?

Am Abend zuvor hatte an diesem Hause eine seit langem überfällige Diskussion stattgefunden; hier der Bericht von Bastian Brandau darüber, der in der Nacht vom 30. auf den 31. Juli in der Sendung FAZIT auf Deutschlandfunk Kultur ausgestrahlt wurde:

VIII.

Eine der Fragen, auf die es während der Führung keine Antwort gab, war die, ob hier auch Arbeiten von Künstlern hängen würden, die sich später irgendwann selber umgebracht hätten.

Die Frage liegt nahe, wenn beim Gang durch die Räume immer wieder Bilder den Blick an sich ziehen, die über selbst zugeführte Schmerzen ebenso ummittelbar berichten wie über eine Vergewaltigung, über das "Zieh’n" der Zigeuner wie das Zusammenschlagen einer jungen Frau durch die Polizei. Und wenn, dann zwischen diesen Stationen, immer wieder Bilder in zuminest dunklen Tönen zu erleben sind, in denen die Trauer in den unterschiedlichsten Positionen zum Ausdruck gebracht wird - wie auch in den Skulpturen.

Da nimmt sich ein Mitglied aus der BesucherInnen-Gruppe die Zeit, sich für eines dieser Bilder noch mehr Zeit zu nehmen als die Anderen, während diese auf ein anderes Bild mit dem gleichen Topos ansprechen.

IX.

Und dann ist sie da, die Freiheit, die aus den Alpträumen aufersteht. Wie die Hoffnung, die auferstanden ist aus den zur Umsetzung verdammten Träumen von einer neuen Zeit.

Die Menschen strömen "ins Freie", setzen den Fuss auf westlichen Boden wie einst die Astronauten auf den Mond. Und greifen den Wunsch Heiner Müllers auf ihre Weise auf, dass auf der nächsten Demo auch getanzt werden dürfe. Das hatte der "Brecht 2.0" auf der Demo zur Gründung freier Gewerkschaften als seinen persönlichen Wunsch vorgetragen, als das Volk noch von einer "DDR 2.0" träumte [6]. Und sich nunmehr all das anzueignen versuchte, was bislang hinter dem eisernen Vorhang als "à la cantonade" bis dahin als "Traumziel" vollkommen unzugänglich erschienen war.

In mehreren Bildern ist von einem solchen Traumziel die Rede - und dann erzählt eine der Besucherinnen, dass nach ihrer Pensionierung zum Zeitpunkt des Falls der Mauer eben jenes Paris ihr erstes Reiseziel in Richtung Westen gewesen sei.

Eine der jüngerin Künstlerinnen berichtet in einer ihrer aktuellen Arbeiten aus dem Jahr 2018, wie aus den noch zur Jugendweihe überreichten Buchbänden zum Thema "Weltall, Erde, Mensch" heraus alles erklärt werden sollte, während sie jetzt ihre Welt in Form von regenbogenfarbenen aufgeschnittenen Papierseitenstreifen erobert und dabei alsbald auf dem Boden der Tatsachen - hier des Museums - aufstösst...

X.

Dieser Boden der Tatsachen. das ist hier und heute der eines neu errichteten Museums der bildenden Kunst.

Mit einem grossen - zu einer Video-Art-Station umfunktionierten - silberglänzenden Personenfahrstuhl sind wir in den obersten Stock des Gebäudes verbracht worden. Als es am Abend darum geht, diese Räume wieder zu verlassen, teilen wir diesen Fahrstuhl mit mehreren MitarbeiterInnen des Hauses. Sie haben Chip-Karten-Schlüssel und können damit ihre bevorzugten Destinationen anwählen und eher erreichen, bevor sich dann auch für Gästen wie uns die Möglichkeit ergibt, den Ausgang zu erreichen.

Während dieser Wartezeiten in dem silbrigen von oben mit Tüchern ausgehängten fahrbaren Metallkasten kommt nochmal die ganze Phalanx der Videoinstallationen zur Geltung. Diese sind von unzweifelhaft höherer Qualtiät als die Bildschirme in den neuen Berliner Mietshäusern, in denen den Fahr-Gästen der Wetterbericht und Anworten auf all jene unsäglichen "Wussten Sie schon ... " Quizzfragen eingespielt werden.

Hier, im Fahrstuhl, bleiben die Bewegtbilder selber ein Rätsel. Sie fordern uns dazu auf, am Ende dieses Tages selber einen guten Schluss zu suchen, einen, den es dann doch geben sollte, den es dann doch geben "muss, muss, muss!"

Denn wir, wir sind mit der DDR noch lange nicht fertig.

WS.

P.S.

Bei der Nachbereitung dieses Besuchs wurde viel Wert darauf gelegt, bei den Texten Diskretion walten zu lassen und bei den Fotos alle Rechte soweit als irgend möglich zu wahren. Daher wurden direkte persönliche Zitate aus dem Rundgang ebenso vermieden wie die Wiedergabe von Eindrücken aus den noch nachfolgend geführten Gesprächen. Auch von den hier angesprochenen Exponaten wird kann leider keines im Vollformat gezeigt werden - auch wenn einige von diesen auf der Webseite des Museums zu sehen sind - denn dieses Publikationsrecht beginnt zwar 6 Wochen vor der Eröffnung, endet mit dem Tag der Finissage. Da diese Publikation aber mit Sicherheit auch danach im Netz zur Verfügung stehen wird, muss auch diese Möglichkeit ausgeschlossen werden.

LeserInnen ist natürlich der eigene Rückgriff auf die Online-Angebote, die PDF-Seiten und den Katalog zu empfehlen. Aber all das macht eigentlich erst wirklich Sinn, wenn diese als "Gedächtnisstützen" vor und vor allem nach der eigenen Inaugenscheinnahme der Exponate zur Rate gezogen werden können.

Anmerkungen

[1Katharinenstr. 10, 04109 Leipzig

[2

[3In diesem Zusammenhang die Aussage von Ingeborg Ruthe in ihrem Text über Metaphern des Umbruchs in der FR vom - zuletzt - 25. Juli 2019:

Die mit Ausstellungen dieser Kunst sehr erfahrenen und in ihren Naturellen wie Sichtweisen keineswegs homogenen Kuratoren Paul Kaiser, Dresden, und Christoph Tannert, Berlin, wurden mit ihrem anspruchsvollen Konzept für „Point of No Return“ übrigens in Dresden, Erfurt und Schwerin abgelehnt. In Leipzig waren sie willkommen.

[4von Menschen so gerne und so bereitwillig bereitgestellt, dass dieses selbst den Spediteuren als besonders angenehm ausgefallen sein musste...

[5Der Eintritt war nach Vorlage des Presseausweises frei, der Katalog wurde zum Preis von Euro 35.- an der Kasse erworben, die Reise von und zurück nach Berlin wurde von einem Freund gesponsert.

Dank dafür! WS.

[6O-Ton Müller vom Ende seiner Rede vom 11. November 1989:


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