Sehr geehrter Herr Dr. Siegert,
am 25. November sind weitreichende Beschlüsse der Bund-Länder-Gespräche für den weiteren Umgang mit Corona und des kulturellen Winters 2020/2021 zu erwarten.
Für den Abend dieses Tages, den 25.11. um 20 Uhr laden wir Sie sehr herzlich ein zur digitalen sITZung, um diese Fragen, die uns alle in diesem Zusammenhang beschäftigen, zu diskutieren.Das Thema:
Theater vs. Corona — Die Kulturnation [1] Deutschland in der (Weltvirus-)KriseDie Partner:
Institut für theatrale Zukunftsforschung im Zimmertheater Tübingen in Kooperation mit dem Deutschen Bühnenverein, der Friedrich-Ebert-Stiftung und DeutschlandradioAls sichere Orte sahen und sehen sich die Kulturinstitutionen in Deutschland: Aufwändige und teure Hygienekonzepte und -maßnahmen wurden seit dem Frühjahr etabliert und erprobt. Erfolgreich - nach Meinung vieler. Unklar, ob das stimmt und wie die Entwicklung weiter gehen wird - sagt die Exekutive.
Das Theater kämpft in dieser Situation mehr denn je um Erhalt, Berechtigung - und das Vertrauen des Publikums.Bereits klar jedoch ist, welche Fragen die Kulturschaffenden weiterhin beschäftigen werden: Wie managed der Kulturföderalismus diese Krise, mitsamt all ihrer kurz-, mittel- und langfristigen Konsequenzen für die Kulturnation Deutschland? Und welche Flurschäden sind bereits jetzt entstanden? Welche Erkenntnisse ziehen wir aus der Corona-Zeit - sowohl für Kunst und Kultur, als auch für ein neues solidarisches und demokratisches Miteinander?
Auf dem virtuellen Podium, zu dem wir Sie herzlich einladen, diskutieren
– der Direktor des Deutschen Bühnenvereins, Marc Grandmontagne
– Franziska Richter, Fachreferentin für Kultur&Politik der Friedrich-Ebert-Stiftung Berlin und Herausgeberin des Buchs „Echoräume des Schocks. Wie uns die Corona-Zeit verändert“
– Rechtsphilosoph und Leopoldina-Mitglied Prof. Dr. Reinhard Merkel
– und die Intendanz des Tübinger Zimmertheaters, Dieter und Peer Mia Ripbergerüber den Status Quo und die Zeit nach bzw. mit Corona - das „new normal“.
Es moderiert Hans Heimendahl, Leiter der Hauptabteilung Kultur, Deutschlandradio.
Es gibt die Möglichkeit, sich digital an der Diskussion mit Fragen und Statements zu beteiligen.
Zum Zoom-Meeting (Beteiligungsmöglichkeit mit schriftlichen Fragen): https://us02web.zoom.us/j/82427581410
Zum Stream: www.youtube.com/user/ZimmertheaterTueb
Wir freuen uns auf Sie!
Mit vielen Grüßen
Franziska Richter
Referentin für Kultur&Politik der Friedrich-Ebert-Stiftung
– Dieter und Peer Mia Ripberger, Intendanz des Tübinger Zimmertheaters:
Ist Corona eine Chance? Jein! Wir konnten uns auch digital neu mit dem Publikum vernetzen, aber jetzt sitzen wir durch das erneute kurzfristige Aussetzen des Spielbetriebes "auf glühenden Kohlen".
Schon heute flammen die Debatten um die Legitimität der Kunst in München, Bamberg und anderen Städten auf.
"Wir stellen das Leben ab, um uns vor dem Sterben zu schützen."
"Warum kommen wir in den ’Saturn’ aber nicht ins Theater?"
Nicht nur den Künstlern geht viel verloren, sondern auch seinem Publikum (heute nachzulesen in der Umfrage der Süddeutschen Zeitung).
Unser Publikum: nur 5% bis 15% sind regelmässig dabei. 50% kommen nicht.
Ja, direkt nach dem Weltkrieg gab es Theater. Aber wenn wir uns nicht mehr nahekommen dürfen, wie weit lässt sich dieses Doktrin so schnell wieder ablegen? Es wird einen nachhaltigen Zuschauerschwund geben. Wir m ü s s e n daher neue Zuschauergruppen gewinnen. Die Kulturpolitik guckt in erster Linie... auf die Zahlen!
– Franziska Richter, Fachreferentin für Kultur&Politik der Friedrich-Ebert-Stiftung Berlin und Herausgeberin des Buchs „Echoräume des Schocks. Wie uns die Corona-Zeit verändert“:
Im Frühjahr gab es noch den Mut zum Durchhalten, im Herbst eher die Verzweiflung.
"Die Politik" gibt es nicht. Kulturschaffende u n d Kulturvemittler sind gleichermassen betroffen.
"Die wachsende Geschichtsblindheit und Geschichtsverschiebung hat mich tief erschüttert."
Man muss Zeichen setzen, wie es die "radikalen Töchter" tun.
"Ich wünsche mir neue Erzählerinnen." Frauen müssen den Mut haben, auch wenn man sie vielleicht dreimal fragen muss. Mehr Demut und weniger Konfrontation.
– Prof. Dr. Reinhard Merkel, Rechtsphilosoph und Leopoldina-Mitglied:
Ist das Theater mehr als eine Freizeitbeschäftigung?
Ein arbeitsloser Schauspieler ist kein grösseres Schicksal als das eines arbeitslosern Fitnisstrainers.
Es gibt keinen kategorialen Unterschied des Grundgesetzes zwischen der Religion und der Kunst und Kultur. Die Schutzwürdigkeit gilt für diese Bereiche genauso wie für die Wissenschaft.
Es gab bis vor kurzem im Infektionsschutzgesetz einen offensichtlichen Legitimationsmangel.
Dieses ist "eine elitäre Angelegenheit" für die Produzenten wie für eine Minderheit der Konsumenten. Das gilt auch für einen Shakespeare... damit ist die Qualität der "grossen Kunst" gemeint. "Elitär"... das ist für mich ein Kompliment.
Wenn die Theater unterhalb der Schwelle des sozial nicht mehr zu vertretenen Risikos liegen, muss man ihnen die gleichen Rechte einräumen wie den Schwimmbädern.
"Wir müssen die berechtigte existenzielle Angst akzeptieren."
"Die Kultur wird überleben - immer", aber wir müssen die Beschädigung der Institutionen vermeiden.
Was die eigene Zuständigkeit betrifft: haben wir hinreichende verfassungsrechtliche Grundlagen für die Normsetzungen der Exekutive? Die Politik sollte diese Diskussion aufnehmen.
– Marc Grandmontagne, Geschäftsührer des Deutschen Bühnenvereins
Bisher ist es gelungen "den Laden einigermassen zusammenzuhalten", vor allem im Vergleich zu anderen Ländern in Europa. Aber in Zukunft machen wir uns auf schwere Verteilungskämpfe gefasst.
"Der Nutzen der Kultureinrichtungen liegt in ihrer Nutzlosigkeit."
Es gibt keinen Unterschied zwischen Artikel 4 und Artikel 5. Eine Kirche ist nicht hygienischer als ein Theater. Aber sie ist aus Sicht der Politik offensichtlich deutlich wichtiger.
Wir haben keine Sonderrolle. Die Pandemie ist auch eine Übung in Solidarität.
Wir wissen bis heute nicht von Infektionsfällen in unseren Veranstaltungen.
Wir müssen über verbindliche Öffnungsperspektiven reden!
Es gibt eine Übermacht der Haushälter und Bürokraten.
– Dr. Hans Heimendahl, Leiter der Hauptabteilung Kultur, Deutschlandradio:
Ich würde Kultur gerne zur Daseinsvorsorge rechnen.
Gibt es ein "back-to-normal" oder ein "new-normal"?
Wir sollten das nochmals zu einem späteren Zeitpunkt fortsetzen.
– Helge Lindh, SPD, berichtet über die Tagung des Kulturausschusses, die aus seiner Sicht über vier Stunden noch nie so lebhaft gewesen sei wie diese heute. So offen, klar, intensiv und emotional.
"Aus der Novemberhilfe wird auch eine Dezemberhilfe" werden.
Wir müssen endlich kulturpolitische Fragen stellen, die wir bislang immer (gerne) verschoben haben.
Man darf in der Politik nicht nur erklären, sondern sollte auch begründen.
Wir müssen Antworten finden auf die fundamentalen Erschütterungen, die durch die ganze Gesellschaft geht.
Gegen die "Selbstverzwergung" der Kulturpolitik!
Nach dem Panel gibt es noch ein „Kantinengesprächs-Panel“ [2] und es ist erfreulich zu sehen und zu hören, wie viele sich noch daran beteiligen. Aber es ist zugleich erschreckend mitzuerleben, dass es mehrere Menschen dort gibt, die der Meinung sind, dass wir hier jetzt - wie es bei den JournalistInnen heisst - in der Zoom-Konferenz "unter Dreien" reden würden.
Stattdessen diese wenigen hier spontan formulierten Sätze dazu, die über die kurze eigene Zoom-Einlassung am virtuellen Kantinentisch hinausgehen:
— Theater können überleben, wenn sie "clean" sind (s.o.) - und "cool" (für die in der Statistik fehlenden 50%).
— Theater-Räume, die so steril sind, wie es die Bahnen und Flugzeuge versprechen, bieten allen, die dort Einsteigen, die Chance, an Reisen durch Raum und Zeit teilzuhaben, die selbst ein 3D-Film oft nicht zu erzählen vermag.
— Theater sind gerade dann besonders wichtig, wenn sie mit den ihnen gegebenen Mitteln der Darstellung wieder herstellen können, was uns durch das "Umarmungsverbot" versagt wird.
— Es gibt dafür keine bessere dramaturgische Grundhaltung als die, Mut machen zu wollen. Und das geht auch jenseits der Bühne. Auch im digitalen Raum. Und nicht nur - versuchsweise - in 3D.
— In Zeiten, in denen die aus der Genese des Internets ausgelösten Utopien mehr und mehr in Dystopien umschlagen, kann das Theater solche freigewordenen Freiräume - jenseits der verbrauchten Hoffnungen - neu besetzen.
— Aber um eine solche "Neubesetzung" - erst im Kleinen und dann im Grossen, erst vor Ort und dann systemisch - erfolgreich umzusetzen, müssen die Akteure und deren Protagonisten begriffen haben, was "das Digitale" denn überhaupt ist, wie es wirkt und was es bewirkt.
— Dazu reicht es nicht, im Schauspiel auch Leinwände auf der Bühne zu bespielen oder in der Oper die SängerInnen mit Handys auftreten zu lassen. Es gilt vielmehr das, was auch in der Diskussion gefordert wurde: nicht nur erklären, sondern begründen.
— Das Grossartige am und im Theater ist, dass es die Mittel und Möglichkeiten hat, diese "Begründung" als eine Veranstaltung zu inszenieren, in der sich mit Herz und Hirn als einem Ensemble von Werten und Werthaltigkeit die Qualität der szenischen Erscheinungen zur Entfaltung bringen lässt.