Online-Berlinale (III) Bilanz 2021

VON Gabriele LeidloffZUM Samstag Letzte Bearbeitung: 9. April 2021 um 14 Uhr 23 Minuten

 

Hier in Fortsetzung [1] dieser Gastbeitrag von Gabriele Leidloff und Max-Peter Heyne [2].

Berlinale Bilanz 2021

 

Die BERLINALE ist immer eine Herausforderung, aber diesmal auf eine ganz andere, neuartige Weise. Innerhalb von nur fünf Werktagen wurde der größte Teil der ausgewählten Filme – wenn Produzenten und Verleiher es zuließen – für Branchenvertreter und Journalisten als Stream zum Sichten zur Verfügung gestellt. Nicht so viel wie bei der physisch stattfindenden BERLINALE, aber immerhin mit mehr als hundert Titeln. Wer sich einen halbwegs seriösen Überblick verschaffen wollte (und die Filme in voller Länge ohne Vorspulen sah), musste von früh bis spät streamen, um nichts zu verpassen. Klar war von Anfang an, dass das Kinogefühl nicht aufkommen konnte. Schwer zu sagen, welche Art der BERLINALE härter durchzustehen ist. Einziger Vorteil: Wer einen schwachen oder für seine/ihre Zwecke irrelevanten Film erwischte, konnte ihn einfach abbrechen.

Dies wäre 2021 selten vorgekommen, denn die Sektionen boten eine insgesamt sehenswerte Auswahl an Filmkunst, insbesondere der Wettbewerb und die Specials sowie das Panorama, aber auch die Kurzfilmauswahl. Allerdings hat sich das Wettbewerbsprogramm unter dem künstlerischen Leiter Carlo Chatrian noch weiter von den Kinokonventionen entfernt, und wer das klassische Erzählkino mit einer dramaturgischen Strategie bevorzugt, der wird im Juni, wenn die Filme für die Öffentlichkeit in Berliner Kinos aufgeführt werden, den experimentellen Charakter erleben. Viele Regisseur*innen haben sich derart in ihre Ideen verliebt, die sie zu sehr strecken, was insofern bedauerlich ist, da sie sich damit ihrer ohnehin mageren Chancen berauben, dass die Filme einen regulären Kinoeinsatz erhalten. Denn bevor sie auf ein geduldiges Publikum treffen, müssen die Kinobetreiber bereit sein, wegen der Überlängen auf normale Vorführabläufe und entsprechende Einnahmen zu verzichten.

In den vergangenen Jahrzehnten waren nie auffällige Gemeinsamkeiten oder besondere Trends aus den BERLINALE Kernprogrammen herauszukristallisieren, diesmal aber doch! Film wurde des Öfteren wie literarische Genres behandelt: die Erzählungen in Episoden oder Kapitel aufgeteilt, mehrfach die Stories mit lyrischen Zitaten eingeleitet und in einer Metaebene mit poetischen Bezügen versehen. Neben einer experimentellen, offenen Dramaturgie wurde der Surrealismus als Stilmittel wiederbelebt.

Das bedeutete im Umkehrschluss, dass die Wettbewerbsbeiträge eher von den Charakteren und den Beziehungskonstellationen geprägt und nicht handlungsgetrieben waren wie Genrefilme. Stattdessen dominierten präzise Beobachtungen der Lebenssituationen der Figuren, um davon ausgehend ein Panorama der jeweiligen Mentalitäten aufzuziehen und ein Spiegelbild der gesellschaftspolitischen Umstände zu liefern. Es gab eine ruhige Konzentration auf das Zwischenmenschliche, das genau beobachtet und in den Dienst der Handlung gestellt wird – sofern es eine gab. In fast allen Bildkompositionen schien eine Art lethargische Atmosphäre die Pandemie wieder zu spiegeln.

Nur der Gewinner des Goldenen Bären, Bad Luck Banging or Loony Porn, setzt die gegenwärtige Situation direkt um, indem der Regisseur in seiner letzten Episode seine Darsteller*innen mit verschiedenen Masken verkleidete. Daraus ergibt sich ein Kaleidoskop zeitloser Vielfältigkeit, bei der die Charaktere jeweils stellvertretend argumentieren. Diese wie auch die meisten anderen Entscheidungen der internationalen Jury, die in diesem Jahr aus sechs Autorenfilmer*innen bestand, konnte man nachvollziehen. Anders hingegen die Preise der„Encounters“-Jury, obwohl zumindest der Kanadier Denis Coté angesichts der Coronapandemie mit seinem Drama Hygiène sociale bei der die Schauspieler*innen weiträumig in eine Landschaft verteilt wurden, vorbildlich auf Abstand ging und in den deklamierten Dialogen satirischen Witz aufblitzen ließ. Ein formal ungewöhnlicher Film, der an die sperrigen Werke des Regiepaares Jean-Marie Straub und Danièle Huillet gemahnt, auf die aber unfairerweise nirgends verwiesen wurde. Über den steif gespielten und inszenierten Schweizer Film Das Mädchen und die Spinne breiten wir lieber den Mantel des Schweigens. Nur so viel: Wer die Jurybegründung ins komplette Gegenteil verkehrt, hat eine Vorstellung von dem Film.

Das Problem der neuen Reihe „Encounters“ besteht darin, dass sie qua Definition faktisch ein weiteres Forum ist und darüber hinaus teilweise auch dem Wettbewerb und dem Panorama Konkurrenz macht. Da inzwischen überall stilistisch außergewöhnliche Werke versammelt sind, wird die Profilierung der einzelnen Sektionen immer schwieriger. Und von Entschlackung des Programms kann nur aufgrund der Corona-Situation die Rede sein: Die von der neuen BERLINALE Leitung eingestellten Sektionen „Kulinarisches Kino“ und „Native“ boten innovative Konzepte und spezielle Genres und die Zahl der Titel waren geringer als in „Encounters“.

Die diesjährige Auswahl ist insgesamt gelungen. Wenn Sie also offen für unkonventionelle Filmstoffe und -stile sind, freuen Sie sich auf den 9. bis 20. Juni. Dann wird es ein „Summer Special“ mit zahlreichen Filmvorführungen für das Berliner Publikum geben – in den Kinos wie auch Open Air.