DIESER TEXT IST NOCH IM ENTSTEHEN UND WIRD JE NACH DEN RÜCKMELDUNGEN IM NACHGANG DIESES TAGES UM EINTRÄGE ZU DEN BUCHSTABEN V & W ERGÄNZT WERDEN
A.
Sind "Leseratten" die besseren Menschen? Sind Menschen, die neue LeserInnen mit ihren guten Stoffen und Texten (auch für sich) gewinnen: "Rattenfänger"? Und was ist mit all jenen, die als Publikum "sitzen bleiben" müssen - oder dürfen? Hier und heute gibt es ein kleines Panoptikum von drei Menschen, die ebenso exemplarisch wie menschlich aufzeigen, zu was "emotionale Intelligenz" in der Lage ist. Die diese erleben - und uns miterleben lassen.
B.
In dieser Woche gab es die Gelegenheit, eines der vielen Interviews mit Frau Heidenreich ganz bequem in der Deutschlandfunk-Kultur-Reihe "im Gespräch" an- und nachzuhören. Immer wieder unterbrochen von einer Reihe von Musiktiteln spricht Katrin Heise mit Elke Heidenreich. Sie wird in der Dokumentation des Mitschnitts dieser Sendung vom 11. Mai 2021 als "Autorin und Literaturkritikerin" ausgewiesen und mit dem Satz zitiert: „Ich bin die klassische Frau, die gern alleine an der Bar sitzt“.
C.
In der eigenen Rezeption bleibt dieser Satz im Gedächtnis, der auch den weiteren Fortgang dieses ABC’s bestimmen wird:
"Die Musik ist meine grosse Liebe, die Literatur ist mein Beruf. Aber die Musik war immer meine Liebe."
Ein besonderes Interesse fand aber zunächst jene Passage, in der es darum ging, dass sie bereits von mehr als einem Jahrzehnt versucht hatte, neue Leserschichten auch und insbesondere über das Internet anzusprechen, und dass sie damit letztendlich keinen ausreichenden Erfolg hatte.
Sie sagt:
"Das Netz ist nicht mein Medium. [...] Ich war (mit meiner Sendung. WS) zu früh. Ich war einfach zu früh. Und heute könnte ich es machen, hab aber einfach keine Lust mehr. [...] Es ist schön, dass es das gibt, aber in den ’alten Medien’, Radio und Fernsehen, rückt das Buch immer weiter nach hinten."
D.
Im Nachgang zu dieser Sendung fand die nochmalige Erwähnung dieses Versuch so grosses Interesse, dass hier erneut nachgeschaut und nachgelesen wurde. Und dabei unter anderem dieser Artikel aus dem Literaturcafe vom letzten Dezembertag anno 2009 ins Auge fiel:
E.
Das Erste, was dabei auffiel, war der Umstand, dass wieder einmal ein wichtiger, hier nochmals wiedergegebener Link auf eine Radiosendung des Bayerischen Rundfunks nicht mehr zu der avisierten Quelle führt.
Die Aktivierung des Links führt vielmehr zu einem der vielen "klassischen" Vierhundertvierer, der in diesem Falle so aussieht:
F.
Auch der Versuch, diesen Beitrag nochmals über die Suchfunktion wiederzufinden, scheitert:
G.
Es ist und bleibt nach wie vor unbegreiflich, warum es diese Anstalten des öffentlichen Rechts nicht auf die Reihe bekommen, uns mit jenen Quellen zu versorgen, deren Entstehung wir einst mit unser aller Gebühren - heute Beiträgen - finanziert haben.
Um es ganz bewusst provokativ zu formulieren: All den betagten MitarbeiterInnen und Mitarbeitern steht heute das Recht zu, aus den Pensionskassen der Häuser eher recht als nur schlecht finanziert zu werden. Was aber ist mit unseren Rechten als NutzerInnen, die ebenfalls, oft zeitlebens, in diese Sender eingezahlt haben?
H.
Wenn wir uns ’die Heidenreich von früher’ heute anhören oder anschauen wollen, müssen wir uns bei dem US-amerikanischen Provider Google mit einem eigenen Konto akkreditieren und anmelden - um dann nach herzenslust im Internet auf deren YouTube-Seiten herumstöbern zu können.
Das ist schön - aber ist es auch gut (so)?
Wenn wir in der ZDF-Mediathek das Wort "heidenreich" eingeben, werden "11 Ergebnisse" angezeigt, nach ihrer "Relevanz" geordnet und auf den Positionen eins und vier im Zusammenhang mit dem Thema Kleidung ausgewiesen [1] [2]:
I.
In dem oben angesprochenen Interview redet sie - trotz aller ihr sonst eigenen Diskretion - auch über ihre Liebe(n) und ihre Männer.
"Liebe ist ja ein tolles Gefühl, das inspiriert einen ja immer wieder zu Neuem, man kann gar nicht genug lieben, denke ich, zu neuen Höhenflügen. Das mach einen Glücklich, auch wenn die Liebe nicht glücklich ist. Ich finde lieben immer wichtiger als geliebt zu werden."
Bei YouTube-Netz-Gestöber findet sich der schönste, oder vielleicht besser gesagt, der aufregendste und anrührendste Beitrag zu diesem Menschen in der WDR 5 Silvester Sendung aus dem Jahr 2008, in der sich Elke Heidenreich und (mein ewig lebenden Freund) Roger Willemsen erneut ihrer vereinbarten Verlobung versichern, die von Elke mit einem "Ich liebe Dich" besiegelt wird:
https://www.youtube.com/watch?v=4NYEbNp-djM
J.
Was die Begegnung mit der Musik und das Reden über sie betrifft, sei hier eine Sendung von TELE 5 eingeblendet, die wohl nur wenige auf dem Schirm haben, wenn es um Reger Willemsens Affinitäten für Sergei Prokofjew geht, um John Coltrane, um Jo Cocker, Alban Berg, Charles Mingus, Krzysztof Komeda, Johannes Brahms / Arthur Rubinstein, The Notwist, und Bill Evans samt Trio.
Sie heisst "Sound of my life" und Tim Renner, Loretta Stern und Smudo sollen anhand dieser Titelauswahl herausfinden, wer sich dahinter verbergen mag. [3].
K.
Das hier aufgegriffene Zitat von Elke Heidenreich über die Lieben schliesst sich nicht ohne Grund an an die Schilderung an die mehr als nur schwierige Beziehung zu ihrer Mutter, die erst kurz vor ihrem Tod am Krankenbett auf Vermittlung ihrer Schwester hat ’aufgelöst’ werden können.
Was diese Beziehung zu den Eltern mit der Liebe auf sich hat, darüber hatte ein Jahr danach, 2009, ein Buch bei Goldmann veröffentlicht: "Liebe. Ein unordentliches Gefühl."
Über das er, Richard David Precht, in diesem AV-Selflie u.a. sagt :
"Liebe ist eine Umleitung einer Verlusterfahrung. Sie ist aber nicht etwas, was logische aus der Sexualität hervorgegangen wäre."
L.
Frau Heidenreich hatte den jungen Herrn Doktor Precht in einer ihrer Sendungen, in der er im Jahr zuvor zu Beginn des Gesprächs auf das Erscheinen dieses Buches im Folgejahr hinweist:
M.
Und dann spricht er hier ...
... über seine KollegInnen in der Wissenschaft im Allgemeinen und der Philosophie im Besonderen und sagt diesen grandiosen Satz:
"Wissenschaftlichen Texte sind Briefe an Freunde. Die sind eigentlich nicht für die Öffentlichkeit bestimmt. Und das ist ärgerlich."
N.
Und Frau Heidenreich macht aus diesem Anlass einmal mehr darauf aufmerksam, dass es in ihren Sendungen nicht um Literaturkritik, sondern um Literatur v e r m i t t l u n g gehe.
Und wie gut das gelingt, das können wir einmal mehr nacherleben in ihrer vorangegangenen Begegnung mit Roger aus Anlass der am 14. September 2004 in der noch im TV ausgestrahlten Sendung ["Lesen!">https://www.youtube.com/watch?v=CtNbevZaUto]:
Und ihr Gespräch über Bücher ist zugleich immer auch ein Gespräch über all das, was man mit sich selber und in der jeweils eigenen Welt erfahren hat.
O.
Umso spannender, und auch bewegender, dass sie auch Precht dazu bringt, für ihr Publikum nicht nur aus einem Kochbuch mit absurden Rezepten vorzulesen, sondern auch über Literatur zu reden. Über Siegfried Kracauer’s Roman "Ginster" von dem Precht behauptet:
"Das stilistisch schönste Werk der deutschsprachigen Literatur, das ich überhaupt kenne. [...] Es ist durchaus ein Buch für viele Leute, die sich über eine sensible, intelligente, poetisch anrührende Sprache freuen können"
P.
Wenn man Willemsen oder Precht in diesen Begegnungen so über Literatur reden hört, dann fällt es schwer, sich im Vergleich zu diesen - wenn auch liebenswerten - Titanen des Geistes zu positionieren. Aber dann fallen Sätze wie dieser von Precht, die einen unmittelbar ansprechen. Etwa, wenn er sagt:
Kracauer war ein Mensch ohne Haut. Er war ein Mensch, der von allen Dingen die auf ihn einströmten, extrem emotional angegriffen wurde, und das in einer wunderschönen Sprache verarbeiten kann. Er konnte keine Unterschiede machen zwischen den wichtigen und den weniger wichtigen Dingen, und auf diese Art und Weise entsteht Poesie.
Q.
Hier sie nur kurz eingeblendet, dass es mit der Rolle des Moderators und des Gastes auch andersherum ging: Im SF-Literaturclub vom Oktober 2005, der letzten Sendung vor der Buchmesse, ist Roger Willemsen der Gastgeber und Elke Heidenrich seine erste, wenn auch nicht einzige, ’Gästin":
R.
Angesicht all dieser Aufzeichnungen und all dieser Stimmen im Ohr ist klar, wie weit die selbstermächtigten Vorstellungen von der Qualität des eigenen Tuns und Denkens, Schaffens und Reflektierens entfernt sind von jenen Potenzialen, die einem in diesen Aufzeichnungen entgegenschlagen.
Das Entscheidende ist, dass sich diese Menschen in und aus ihrer eigenen Rezeptionsgeschichte heraus einen eigenen Kosmos an Kompetenz haben erarbeiten können, der dazu führt, Neugier wichtiger zu finden als die gesetzte Erkenntnis, Widerspruch als förderlicher denn die (Selbst-)Bestätigung.
S.
Es wird aber auch klar, wie sehr die Rahmenbedingungen eines Veranstalters wie das ZDf die Voraussetzungen für den Erfolg eines solchen Programmangebotes mit bereitstellen. Gingen die Zuschauerpostzahlen zur einer Sendung in die Hunderttausende und insgesamt in die Millionen, waren die Abrufzahlen bei den ausschliesslich fürs Netz produzierten Beiträge im maximal mittleren vierstelligen Bereich.
T.
Und jetzt wird es spannend: Während die TV-erfahrene Heidenreich im Netz scheitert, ja scheitern muss, werden an ganz anderer Stelle eben diese neuen Möglichkeiten entdeckt und konsequent zu ganz neuen Vermittlungsformen ausgebaut.
Und das so weit, dass heute, die ’alten’ und die ’neuen’ Formate nicht mehr länger über die bisherige Darreichungsform unterschieden werden können. Mag sich das Fernsehen auch in Richtung DVBT, das Radio in Richtung DAB weiterentwickelt haben, heute steht das Prinzip Broadcast als solches mehr und mehr infrage, ja, in vielen Fällen schon zur Disposition.
U.
Es fallen also zwei Entwicklungen zusammen: der schleichende aber nicht mehr aufhaltsame Zusammenbruch des klassischen Broadcast-Modells. Und die Übernahme der in diesem Modell vermittelten Inhalte durch neue, privatwirtschaftlich organisierte Plattformen und Provider.
Wenn jetzt die neue Programmdirektorin der ARD Christine Strobl erklärt, dass die Zukunft der ARD von der Wirkkraft und Strahlkraft dieser Plattformen abhänge - "Wir brauchen eigenes, originäres Programmangebot für die ARD-Mediathek" - deutet sich an, wie unfassbar gross dieser neue Paradigmenwechsel sein wird.
Während man in der ARD weg will von der Funktion der Mediathek als eine Art Videorekorder für verpasste Sendungen, mag man sich vielleicht versucht haben, der Konkurrenz von Netflix und Amazon, Disney und Sky zu widersetzen. Aber inzwischen hat sich Alphabet Inc. mit YouTube in genau dieser Funktion als netzgebundener "Videoreorder" durchgesetzt.
Und damit den AV-Markt neu definiert.
V.
W.
X.
Im YouTube Official Blog vom 7. Mai 2021 wird auf die erweiterte Zusammenarbeit von YouTube TV mit Roku im Zusammenhang mit der Cast YouTube TV - Strategie hingewiesen. Und erklärt:
People are watching more YouTube than ever — on mobile, on laptops, and these days, especially on our fastest growing screen, the TV. Over 120 million people streamed YouTube or YouTube TV on their TV screens last December in the U.S.
Damit präsentiert sich YouTube in den USA nicht nur als der erfolgreichste Streamcast-Anbieter, sondern auch als der inzwischen wichtigste Brandcast-Provider.
This has ushered us into a new era of streaming on TV screens, and usage isn’t just limited to short bursts. Watch time trends show that people are tuning in just as they would on traditional TV. In fact, watch time on TV screens of YouTube content greater than 30 minutes has increased more than 90% in a 12-month period in the U.S.1 More than 100 million people in the U.S. now watch YouTube and YouTube TV on a TV screen.2 We’ve seen similar adoption across other parts of the world, as well.
Y.
Nochmals die ganze Krux auf den Punkt gebracht. Elke Heidenreich wird Ende der Zweitausender Jahre aus ihrem TV-Sendeplatz erst immer weiter nach hinten gedrängt und dann gefeuert. Der Versuch, die TV-Erfolgsformel im Netz fortzusetzen, scheitert. In dem nachfolgenden Jahrzehnt sind aber dennoch immer mehr Bewegtbildangebote ins Netz ausgewandert - oder dort neu erfunden und gefunden worden. Und heute, wo die öffentlich-rechtlichen Anstalten versuchen, diesem Trend nachzugeben [4] haben die inzwischen schon etablierten ’neuen’ Plattformgiganten längst ihre mobile fanbase mehr und mehr auf das ’klassische’ TV-Publikum ausgerichtet, eine ganz neue Generation von couchpotatoes 2.0.
Z.
An wen richtet sich dieser Text:
– Natürlich nach wie vor an all die Leserinnen und Leser, die den Autor immer wieder mit ihrer zahlreichen Teilnahme und Aufmerksamkeit erfreuen [5]
– Was die drei genannten ProtagonistInnen betrifft, so ist mir Roger nach wie vor ein immer wieder gegenwärtiger Dialogpartner, zu Heidenreich und Precht gibt es keine persönlichen Kontakte [6]
– Wir werden den Gründer und Herausgeber von literaturcafe.de und sein Team anschreiben, da diese online-Publikation hier gleich mehrfach erwähnt / zitiert wurde, da seine Online-Publikation zu den wenigen gehört, die es noch länger gibt als diese hier [7]
– Es werden die Pressestellen jener Einrichtungen ein digitales Belegexemplar erhalten, die hier erwähnt wurden: von ARD, BR, Deutschlandradio, Tele 5 ... bis zum ZDF.
– Es werden auch die Kontaktangebote jener Einrichtungen aufgegriffen werden, die sich nunmehr fest als (einst alternative) Netzanbieter auf dem deutschsprachigen Markt etabliert haben
– Es werden eine Reihe von Kolleginnen und Kollegen - auch in den Gewerkschaften, aber ebenso Sende(r)verantwortliche - angeschrieben, mit denen dieses Thema nicht erst seit gestern immer wieder besprochen und immer wieder erneut ausgelotet wurde
– Und, nach einer Reihe von wissenschaftlichen Publikationen, zuletzt bei Springer Nature, werden auch die Kontakte in die Wissenschaft erneut mit diesem Text belebt werden (eingedenk des oben zitierten Precht-Satzes: "Wissenschaftlichen Texte sind Briefe an Freunde.")