Reise Skizze II

VON Dr. Wolf SiegertZUM Dienstag Letzte Bearbeitung: 27. Juni 2021 um 18h09min

 

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Two times 24 hours binchrelaxing: Nein, auch das stimmt eigentlich nicht. Nach der Ankunft am Zielort gibt es so viel einzurichten , zu erkunden, zu erproben, dass von „Urlaub“ im eigentlichen Sinne noch nicht die Rede sein kann. Und doch ist es Urlaub. Allein die Abwesenheit von Terminen, die noch nicht wiederhergestellten Onlineverbindungen und die freundlichen klimatischen Verhältnisse sind die Grundlage dafür, dass selbst diese ersten Tag des sich ‚eingroovens‘ schon voll und ganz dem Urlaub zugerechnet werden können.

II

Auch das Schreiben ist Teil dieser neuen Verhältnisse. Es gibt Nichts, das oberste Priorität geniesst. Seien es die absurdesten Träume mit Szenarien aus den unterschiedlichsten Ländern, die des Notierens wahrlich wert wären, seinen es die absurd zu nennenden und doch wahren Wahlergebnisse in Sachsen-Anhalt, wo es seit diesem Wochenende nur noch zwei Volksparteien gibt: die CDU und die AfD. Und, bei aller Freude am Schreiben, ist es eine Wohltat, „nein“ sagen zu können: Einmal nicht all seinen Träumen auf den Grund gehen zu müssen, einmal nicht Ursachenforschung für die letzten -Wahlergebnisse aus Ost-Deutschland betreiben zu müssen und so weiter und so fort.

III

Und dabei ist es absurd zu nennen, wenn ein Paul Zieimiak in der abendlichen TV-Runde der Schein-Elefanten erklärt, dass dieser Sieg der CDU vor allem und zu allererst dem Einsatz seines grossen Vorsitzenden und Kanzlerkandidaten zu verdenken sei. Und es ist genauso absurd, wenn sich dann in seinem Gefolge alle nach und nach jeweils zu Siegern erklären; sich dieses gesamte Phrasendrescherei an seinem ersten Urlaubstag auf dem Smartphone anschauen zu können, mag einen grosser Schritt für die Internettechnik sein, mittels der heute so einen Teilhabe an diesem Ereignis auch aus dem Ausland möglich ist, aber es ist auch ein weiterer kleiner Schritt weg von dem, wofür einst dieses Land wieder zusammengefunden hat. Nicht einmal „Die Linke“ hat noch irgendein Stein im Brett, der mehr Wert wäre als einer jener Bauern, die noch zu Beginn des Spiels zwei Schritte nach vorn haben ziehen dürfen…

IV

Nein, wir haben es auch nach so vielen Jahren immer noch nicht geschafft, in Ost und West gleichwertige Lebensverhältnisse hergestellt zu haben. Stattdessen stellt sich dann tatsächlich die SPD noch kurz vor dem Wahltermin mit überwiegend westlichem Personal im Osten auf, um dieses Manko zu beweinen. Anstatt während der vollen Regierungszeit verbissen um dessen Beseitigung gekämpft zu haben. Dafür gab’s jetzt die Quittung mit einem Wahlergebnis, das nur noch im einstelligen Bereich liegt. Welche Schmach für eine einst so stolze und so wichtige Volkspartei. Hier geht es nicht länger nur um den Verlust werterer Wählerstimmen, hier geht es um den Zusammenbruch eines Konzeptes von Volkssouveränität, das den weniger Bemittelten, den Trittbrettfahrern und Ausgebeuteten dieser Gesellschaft noch ein adäquates Mitsprache- und Mitwirkungsrecht eingeräumt hätte.


V

Jetzt sind wir schon beim Punkt Nummer fünf – und vom Urlaub weit und breit keine Spur? Zu Recht, denn dieser kurze Einblick in ‚die Lage der Nation‘ macht wahrlich keine Freude, ja vielleicht sogar Angst. Es stellt sich einmal mehr die Frage, ob es wirklich die richtige Entscheidung gewesen sei, am Tag des Mauerfalls das eigene A-Z-Notizbuch mit allen bis dahin über viele Jahre eingetragenen DDR-Adressen, Namen und Anschriften von Freunden und Bekannten, Verbündeten und Gegnern zu vernichten. Dieses war damals zwar spontan geschehen, hatte aber doch die klare Position zur Grundlage, nach der sogenannten „Wende“ nicht doch noch als „Wessi“ im Osten Karriere machen zu wollen. Die Möglichkeit in der Zeit ab Mitte der siebziger Jahre in der DDR – genauer gesagt in Berlin-Ost (was ja nicht wirklich ‚die DDR‘ war) – zu arbeiten und auch leben zu können, hatte mich vieles gelehrt, was mich in den Jahren der sogenannten „Nachwendezeit“ vor mancherlei Fehlverhalten bewahrt hat.

VI

Mehr als einmal ist in den Gesprächen in den letzten Monaten immer wieder das Argument aufgebracht worden, dass man sich nicht an die Corona-Regeln zu halten bereit sei, da ja mit diesen wieder aufleben würde, was man schon zu DDR-Zeiten immer wieder habe erfahren müssen: die Bevormundung durch den Staat. Und es gibt Analysen zu den Wahlen in Sachsen-Anhalt, laut derer die FDP nur deshalb über die Fünfprozenthürde gekommen sei, weil sie sich konsequent darum bemüht habe, eben diesen Stimmen eine Heimat zu geben. Und dann – Achtung Gedankensprung – schaffen es die Koalitionäre auch auf der letzten Zielgeraden vor den Bundestagswahlen nicht einmal mehr, die Kinderrechte als neue – und längst überfällige Position – ins Grundgesetz zu schreiben. Also auch das ein Sieg jener Positionen, die sich der Einmischung des Staates zu widersetzen versuchen, oder schlicht eine Bankrotterklärung eines Mangels an politischer Willenskraft, die sich – trotz einer entsprechenden Verabredung im Koalitionsvertrag – nicht zu realisieren weiss?

VII

All das sind aktuelle Nachrichten aus Deutschland, die einen in den letzten zweimal 24 Stunden hier auf der Insel erreicht haben. Und die einen, trotz aller Distanz und Urlaubsfreude, nicht kalt lassen. Und dabei kratzen wir hier nur an der Oberfläche. Und nochmal: Die Sehnsucht auf die Rückkehr in das „new“ Normal ist so nachvollziehbar wie absurd. Wenn wir bis dato immer noch nicht begriffen haben, dass diese neue Bedrohung nun nicht bald ihr Ende finden wird, sondern das Menetekel einer noch ausstehenden Entwicklung ist, die uns bis dato nur ‚an die Wand gemalt‘ wurde, die oder der hat diese Zeichen der Zeit nicht verstanden, kann oder will sie nicht verstehen. Dieser sich aufdrängende Wunsch, dass möglichst wieder alles so „wie früher“ sein möge, ist Indikator einer Entwicklung, die in ihrer Bedrohung der innergesellschaftlichen Kontexte und Konnexe noch weit bedrohlicher sein wird, als es die Pandemie bislang je gewesen war.

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Ja, die Möglichkeit, jetzt in den Urlaub zu fahren, ist ein – wenn auch schwer umkämpftes – Privileg. Eines, das ohne ausreichendes Durchsetzungsvermögen und ohne ausreichende digitale Kompetenz nicht zu diesem Ergebnis geführt hätte. Interessant ist eigentlich vor allem das Erlebnis gewesen, wieder mit ‚richtigen‘ Menschen in einem ‚richtigen‘ Flugzeug gesessen zu haben. Von einem richtig neuen Flughafen abgeflogen zu sein, hinchauffiert von einem richtig guten Freund. Und das Ganze ohne Flugscham, oder hätten wir jetzt deswegen zuhause bleiben sollen?


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