Der "Weltrecht"-Urteilsspruch

VON Dr. Wolf SiegertZUM Donnerstag Letzte Bearbeitung: 14. Januar 2022 um 20 Uhr 37 Minutenzum Post-Scriptum

 

Wir zitieren aus der LTO Legal Tribune Online, die wiederum auf die Stellungnahmen in den Zeitungen des 14. Januar 2022 Bezug nimmt:

OLG Koblenz zu Folter in Syrien: Wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit, 27-fachen Mordes und weiterer Delikte hat das Oberlandesgericht Koblenz den Syrer Anwar Raslan, der für die "Vernehmungen" und damit auch die Folter in einem vom Geheimdienst betriebenen Gefängnis verantwortlich war, zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt. Der Angeklagte sei für die Folterung von mindestens 4.000 Menschen in den Jahren 2011 und 2012 mitverantwortlich, bei denen mindestens 27 Menschen starben. Weil er hierdurch seine privilegierte Stellung zu erhalten trachtete, sei das Mordmerkmal der niedrigen Beweggründe erfüllt. Für den von der Verteidigung geltend gemachten entschuldigenden Notstand spreche nichts. R. hätte sich – früher, als dies tatsächlich geschehen ist – dem Regime entziehen können. Über die Entscheidung berichten FAZ (Julian Staib), SZ (Moritz Baumstieger/Lena Kampf), taz (Sabine am Orde), tagesschau.de (Frank Bräutigam) und LTO.

Reaktionen zur Entscheidung fassen LTO und spiegel.de zusammen. Die SZ (Ronen Steinke)stellt Klaus Zorn vor. Dessen Arbeit als Chef der "Zentralstelle für die Bekämpfung von Kriegsverbrechen" beim Bundeskriminalamt habe das jetzige Urteil maßgeblich ermöglicht. Die taz (Sabine am Orde/Dominic Johnson) beschreibt in einem weiteren Beitrag, wie der französische Kassationshof die Eröffnung eines vergleichbaren Verfahrens abgelehnt hatte, weil das syrische Recht "Verbrechen gegen die Menschlichkeit" nicht kenne. Daneben wird darauf verwiesen, dass am Oberlandesgericht Frankfurt/M. in der nächsten Woche der Prozess gegen einen syrischen Arzt eröffnet werde, der an Folterungen beteiligt gewesen sein soll.

Dominic Johnson (taz) bezeichnet die Verurteilung "unumgänglich". Gleichzeitig sei es "beschämend", dass es zehn Jahre gedauert habe, "die internationale Straffreiheit für Syriens staatlichen Mordapparat zu brechen." Ronen Steinke (SZ) begrüßt die im Urteil zum Ausdruck gekommene Durchsetzung des Weltrechtsprinzips. Zwar sei dessen Einsatz durch die deutsche Justiz "durchaus nicht frei von politischen Eigeninteressen", wie das Unterlassen von Ermittlungen wegen Folter in Guantanamo belege. Gleichwohl gelte: "Je mehr, desto besser," weil nur so Risiken entstünden "für die Foltermeister, sich auf dem Globus frei zu bewegen." Auch für Reinhard Müller (FAZ)ist das Weltrechtsprinzip "ein Fortschritt". Verfahren wie das nun beendete seien aufwendig und stellten "eine rechtsstaatliche Herausforderung" dar. Doch immerhin müssten sich "mächtige Schlächter" die Gefahren vergegenwärtigen, sollten sie ihre Macht verlieren. Christian Rath (BadZ) hält die Wirkung des Urteils für "zwiespältig". Da derzeit nur syrische Deserteure mit Strafverfolgung zu rechnen haben, schrecke dies "zweifelnde Schergen der Diktatur" ab, überzulaufen.

P.S.

Falls die Links später nicht mehr oder nicht mehr vollständig zur Verfügung stehen sollten, hier zusätzlich noch ein Auszug aus der DLF-Presseschau vom 14. Januar 2022:

Die FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG schreibt: „Die Vorstellung ist unerträglich, dass ein Massenmörder und Folterknecht in Deutschland frei herumspaziert. Deshalb ist die Verjährung für das schwerste Verbrechen hierzulande längst abgeschafft worden – und deshalb ist mittlerweile die deutsche Justiz auch für die Verfolgung von schweren Untaten überall auf der Welt zuständig. Dieses ‚Weltrechtsprinzip‘ ist ein Fortschritt, und es war folgerichtig und gut, dass sich das gebrannte Deutschland hier besonders engagiert hat – bei der Schaffung einer Internationalen Strafgerichtsbarkeit wie auch bei deren nationaler Verwirklichung“, meint die F.A.Z.

Die SÜDDEUTSCHE ZEITUNG hebt hervor: „Die Deutschen haben dem Syrer einen Vortrag gehalten. Sie haben ihm deutsche Paragrafen vorgehalten. Sie haben ihm erklärt, was er in seinem eigenen Land zu tun und zu lassen gehabt habe. Sie haben sich dazu aufgeschwungen, sich einzumischen in das Geschäft der souveränen Syrischen Arabischen Republik, und man kann dazu nichts anderes sagen als: ein Glück! Ja, dies sind Richter eines anderen Landes. Es sind Richter eines anderen politischen Systems, und, ja: auch eines anderen Kulturkreises. Aber nichts davon spielt eine Rolle, nichts davon darf eine Rolle spielen, wenn es um Barbareien von der Sorte geht, wie sie in den Folterkellern des Assad-Regimes tagein, tagaus verübt wurden und werden, um ein Volk in Angst zu halten“, hält die SÜDDEUTSCHE ZEITUNG fest.

Die Berliner TAGESZEITUNG betont: „Deutschland kann nicht Millionen Flüchtlinge aufnehmen und zugleich ignorieren, wovor die Menschen fliehen. Sobald Assads Opfer in Deutschland Zuflucht finden, werden Assads Gräueltaten zu einer deutschen Angelegenheit. Und zugleich ist dies keine Selbstverständlichkeit. In vielen Ländern verzichten Justizapparate aus politischen Gründen darauf. Die deutsche Politik muss aus solchen Urteilen politische Schlüsse ziehen und die gebrandmarkten Machthaber ächten, auf allen Ebenen. Nicht zuletzt: Den Überlebenden und Hinterbliebenen, die den Mut hatten, vor Gericht als Zeugen auszusagen, gebührt Ehre – und Schutz“, fordert die TAZ.

DIe BADISCHE ZEITUNG aus Freiburg wendet ein: „Zugleich löste das Verfahren aber auch zwiespältige Gefühle aus. Denn mit Anwar R. wurde jetzt ein Mann verurteilt, der schon 2012 mit dem syrischen Regime gebrochen hat. Er hat seine Position im Geheimdienst aufgegeben, war ins Ausland geflohen und hatte sich der Opposition angeschlossen. Nur, weil er nicht mehr in Syrien für das Regime arbeitet, war der Prozess in Deutschland möglich. Nur, weil er der deutschen Polizei bei Ermittlungen half, wurde diese auf sein Vorleben aufmerksam. Diese Zwiespältigkeit hat Folgen. Andere syrische Überläufer werden sich dreimal überlegen, ob sie deutsche Behörden an ihrem Insiderwissen teilhaben lassen, wenn ihnen später selbst Strafverfolgung droht“, mahnt die BADISCHE ZEITUNG.

Der REUTLINGER GENERAL-ANZEIGER weist auf eine andere Schieflage hin: „Opfer solcher Verbrechen gegen die Menschlichkeit gibt es auch in anderen Staaten. Zum Beispiel in Ägypten oder Saudi-Arabien, also Staaten, mit denen Deutschland aus sicherheitspolitischen oder geostrategischen Gründen zusammenarbeitet. Da erscheint es – zumindest derzeit – ziemlich unwahrscheinlich, dass ein deutsches Gericht eine solche Anklage erheben würde“, befindet der REUTLINGER GENERAL-ANZEIGER.

Das FREIE WORT aus Suhl verlangt: „So begrüßenswert es ist, dass den Opfern der syrischen Folterknechte in Koblenz Recht widerfährt: Noch wichtiger wäre es, die internationale Gerichtsbarkeit zu stärken und zu einem scharfen Schwert zu machen.“

Der WIESBADENER KURIER erinnert: „Im Falle Syriens bleibt die traurige Erkenntnis, dass der oberste Schurke und Völkermörder noch immer unbehelligt und von zwielichtigen Freunden der Völkergemeinschaft an der Macht gehalten wird. Wir werden nicht erleben, dass sich Präsident Baschar al-Assad einmal vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag verantworten muss. Aber ein Anfang ist gemacht“, stellt der WIESBADENER KURIER fest.


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