"Männlein steht allei-he-ne: ganz still & stumm"

VON Dr. Wolf SiegertZUM Dienstag Letzte Bearbeitung: 19. November 2004 um 09 Uhr 58 Minuten

 

In diesem Weblog wird an jedem Arbeitstag des Jahres etwas beschreiben, was uns als besonders wichtig, bemerkenswert, beeindruckend, ja "erinnerungswürdig" vorgekommen ist.

Dazu gehört auch das heutige Vorkommnis: ein Bild, das haften bleiben wird.

Hier im Kiez wird kein Auto, sondern das Fahrrad genutzt. Mit diesem geht es auch zum S-Bahnhof Charlottenburg und von dort aus direkt nach Mitte. In gut 10 Minuten in der Friedrichstrasse, das ist mit keinem Auto zu schaffen.

Beim Anschliessen des Rades vor dem Bahnhof - so gegen 19 Uhr - steht neben den Fahrradständern ein Mann. Sein Gesicht ist kaum zu erkennen, ist durch einen Bart und eine Kapuze fast vollständig verdeckt. Hinzu kommt eine nach unten gebückte Haltung und Blickrichtung. Da neben ihm eine Reihe von Plastiktüten an der Wand lehnen ist klar: ein Obdachloser.

Er steht fast regungslos und reagiert auch dann kaum, als ich in seiner unmittelbaren Nähe das Fahrrad mit einen Metallbügel an dem dafür vorgesehenen Geländer abschliesse.

Es wenige Minuten vor Mitternacht, als ich an diesen Ort zurückkehre. Und als ich zum Fahrrad gehe - steht dieser Mensch immer noch dort. Es ist, als schliefe er im stehen. Als ich das Bügelschloss des Fahrrads aufschliesse, merke ich, dass er wirklich ganz weggetreten war. Im Stehen. Erste das Klicken des Schlosses und Rackeln des Rades weckt ihn auf.

Er verändert leicht sein Stellung, blickt auch jetzt nicht auf und versucht erneut, zur Ruhe zu kommen. Ich schwinge mich auf das Rad - und fahre los. Oder besser gesagt: ich fahre weg.

Mein Arbeitstag, kurz nach 7 Uhr begonnen, kurz nach Mitternacht beendet, war konzentriert und anstrengend. Auch das Abendessen war sozusagen "dienstlich" und hatte hohe Konzentration und Aufmerksamkeit verlangt.

Angesichts dieses Mannes aber, der dort die geschlagenen 5 Stunden womöglich an dem gleichen Ort in der fast gleichen Haltung verweilt haben mag, denke ich an die ungeheure Last, diese Zeit der Leere zu etragen. Ich denke an alle meine Privilegien, die mir immer noch verblieben sind und jene, die ich mir neu erarbeitet habe. Und ich sehen, dass es wichtig und richtig ist, um deren Erhaltung zu kämpfen.

Durch viele Länder dieser Welt bin ich gereist und habe viel Armut, Elend, Einsamkeit und Verzweifelung gesehen und mit-erlebt. Und dennoch ist es das Bild dieses Mannes, das mir nachhängen wird wie Vieles von dem, dem ich zuvor begegnet bin.

WS.


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