Israel-Alumni Tagung 2022 (II)

VON Dr. Wolf SiegertZUM Samstag Letzte Bearbeitung: 11. Juni 2022 um 01 Uhr 53 Minutenzum Post-Scriptum

 

In Fortsetzung von Israel-Alumni Tagung 2022 (I) hier ein Überblick über die Programmabfolge des zweiten Tages. Wie auch schon am ersten Tag galt weiterhin die Vereinbarung, dass keiner der Beiträge aufgezeichnet und/oder fotografiert wird. Davon gibt es heute einige wenige Ausnahmen (2x Audio und ein Foto), die jeweils mit der ausdrücklichen Zustimmung der Beteiligten möglich wurden. Dafür Dank!

10.00 Uhr Begrüßung
Thomas Krüger, Präsident der bpb

2023 feiert Israel 75 Jahre seiner Existenz, und die bpb 60 Jahre Studienreisen. Anregungen, die dies zu feiern sei, sind willkommen!

10.15 – 11.45 Uhr Gesellschaft und Innenpolitik in Israel Panelgespräch mit:
● Maisam Jaljuli, Co-Vorsitzende, Sikkuy-Aufoq - For a Shared and Equal Society
● Polly Bronstein, CEO von "The One-Hundred Initiative" und Autorin
● Prof. Natan Sznaider, Soziologieprofessor, Academic College of Tel-Aviv-Yaffo - School of Behavioral Sciences
Moderation: Dr. Ofer Waldman, freier Journalist und freier Mitarbeiter beim Deutschlandfunk Kultur

Bisher war Politik "complicated", jetzt ist Politik "crazy". Auch in Israel gibt es eine einerseits immer stärkere Radikalisierung. Und zugleich gibt es eine immer stärkere Tendenz, eine neue Mitte zu finden. Bisher gab es zwei grosse Blöcke. Seit 2018 ist der rechte Block, durch Avigdor Lieberman, aufgebrochen, dann bricht der Likud auf... und dann bilden die vier sehr unterschiedlichen arabischen Parteien eine Koalition. Und dann, im Mai 2021, gibt es die Anti-Bibi-Koalition. Aber heute ist sie mit noch 59 Sitzen - statt 64 - nur noch sehr fragil.

Jude zu sein, bringt heute keine Einheit (mehr) zustande. Die Juden, die aus den arabischen Ländern kommen und jene, die aus Europa kommen, haben eine ganz unterschiedliche Agenda. Heute gibt es ein "first Israel" und dann die "second Israel".

Wir haben mit Covid nichts Neues entdeckt, sondern vor-gefunden, was schon zuvor da war. Und damit wird klar, dass der Konflikt, wer und was Israel ist, nicht nur negativ ist. Diese aktuelle Koalition ist eine "counterrevolution". Israel ist nicht (mehr) europäisch, (weiterhin) nicht säkular. Und die alte Definition von Links und Rechts funktioniert nicht mehr.

Das Buch "Altneuland" wurde Tel Aviv, in dem alle Sprachen - europäische - gesprochen werden. Als Gegenposition gab es die Position der "Ostjuden", die sich nicht als Europäer verstehen, sondern als Juden, die Hebräisch sprechen. Darauf wwiederum diese Gegenposition: die europäische Kultur i s t eine jüdische Kultur. Frage: Warum soll Israel am Europäischen Songcontest teilnehmen?

Die Politik in Israel steht am Scheideweg. Das ist jetzt wahrlich ein Experiment. Auch für die Palästinenser, die als Bürger Israels in Israel leben. Aber was ist, wenn die Mehrheit von ihnen n i c h t an den Wahlen teilnimmt? Was ist mit einer Innenministerin, die man nur noch eine Faschistin nennen kann? Dabei sind mehr als 80% der Palästinenser bereit, im Staat Israel mitarbeiten. Das habe zuletzt die Bereitschaft gezeigt, gemeinsam gegen die Corona-Bedrohung zu kämpfen. Dennoch bleiben wir, die Palästinenser, "invisible". Auch wenn das nach der zweiten Intifada so vereinbart wurde, bis heute hat die Kultur der Palästinenser in den Lehrplänen der Schulen in Israel keinen Eingang gefunden. Solange es für die Besetzung keine Lösung gibt, wird es keinen inneren Frieden geben.

Frage, wie kann man verhandeln, wenn man mit Raketen und Messern bedroht wird?
Wie kann man verhandeln mit einem Regime, mit dem man im Krieg ist? Wie kann man zugleich Israeli und Palästinenser sein? Was bedeutet "shared society"? Wie kann man aus diesem "Pendelstadium" entkommen? Wie kann man die Geschichte Israels nach europäischen Standards erklären?

Nein, man kann die Konflikte in Israel mit den klassischen Klassemkampf-Referenzen erklären. Inzwischen haben sich die kulturellen Grenzen immer mehr aufgelöst, aber in der Politik wird das (noch) nicht widergespiegelt. "Constant Reaproachment" findet statt, aber warum muss es dann ein "national state law" geben? Diese Widersprüche zu berücksichtigen bedeutet, eine ganz andere Art der Analyse durchzuführen.

11.45 – 12.00 Uhr Einführung in den Open Space: Austausch und Netzwerken

12.40 – 13.10 Uhr Open Space: Slot 1

Besucht wird die Begegnung zu diesem (selbst) vorgeschlagenen Thema:

Von der eigenen Angst vor dem Krieg, den Träumen von den Kriegserfahrungen der Eltern zu sprechen, und zu fragen, was wir von Israel lernen können, führte zu vielerlei Reaktionen und Gesprächen, auch schon am Tag zuvor. Interessant, dass zu diesem Termin sich dann ausschliesslich Frauen einfanden und wir ein sehr offenes, anregendes Gespräch führen konnten. Und die Männer? Viele von ihnen kamen im Nach herein nochmals mit der Frage herbei, wie das Ganze denn gelaufen sei. Und einer, dem davon berichtet wurde, dass ausschliesslich Frauen gekommen seien, antwortete "... also der Hahn im Korb."

Dieses parallel stattfindende Treffen konnte nicht besucht werden.

Also wurde danach schriftlich dieser Titel für eine AV-Produktion eingereicht [1]:

WIR & IHR
Destination? Israel!

600+ Reisen in 60 Jahren in 60 Minuten.

13.20 – 13.50 Uhr Open Space: Slot 2

15.00 – 16.30 Uhr Fokusgruppen zur Vertiefung folgender Themen:
● Aktuelle Entwicklungen in der arabischen Bevölkerung Israels
Maisam Jaljuli, Co-Vorsitzende, Sikkuy-Aufoq - For a Shared and Equal Society
Moderation: Dr. Ofer Waldman, freier Journalist und freier Mitarbeiter beim Deutschlandfunk Kultur

● Zur aktuellen Regierungspolitik: Bilanz und Ausblick
Polly Bronstein, CEO von "The One-Hundred Initiative", Kolumnistin und Autorin
Moderation: Steffi Hentschke, Journalistin, Tel Aviv

● Israels Gesellschaft post-Corona
Prof. Natan Sznaider, Soziologieprofessor, Academic College of Tel-Aviv-Yaffo - School of Behavioral Sciences
Moderation: Anna-Maria Schuck, Programmreferentin des ZDF-Intendanten

Was hat Corona in Israel für Folgen gezeitigt?
Keine. Ausser das, was zuvor schon bekannt war. Dass man als eines der ersten Länder "voll durchgeimpft" worden war, war ein Erfolg. Weil genug Stoff da war, weil jede und jeder in einer der vier Krankenkassen versichert war, und ist. Weil die neuesten Gadgets gewünscht sind, haben sich diese als sinnvoll erwiesen, zumal man in Israel jegliche Hoffnung aufgegeben hat, was das Thema Datenschutz betrifft. Das Auseinanderhalten von Privat und Öffentlich ist längst aufgeben. "Wir sind eine nackte Gesellschaft." "Datenschutz gibt es in Deutschland auch nicht, auch wenn man dort glaubt, dass es ihn gäbe."

Gab es Impfverweigerer?
Das orthodoxe Schulsystem hat mit seinem Bestehen auf Autonomie zur Folge, dass die Jugendlichen weiter zur Schule gegangen sind. Das führte zu einer Art von Herdenimmunität.
Und es gab ein Milieu arabischer Jugendlicher, für die das Geimpftwerden als unmännlich galt.

Universale Regeln des Verhaltens?
... funktionieren nicht. Man muss die ganze Zeit auf eine Art von Verhandlungsbereitschaft eingestellt sein. Der öffentliche Raum ist "sowas von heterogen"... oft auch laut. Selbst die rote Ampel ist eine Empfehlung, die viele nicht annehmen. Insofern wäre eine Impfpflicht nie möglich gewesen. Jetzt, Ende Mai, ist das Ganze irgendwie schon wieder gegessen...

Die aktuelle Regierung?
... ist wahrlich nicht stabil. Es ist eine Pattsituation. Aber dies ist spannend, da sie einen gegenrevolutionäre Entwicklung repräsentiert. Die Koalition heute ist eine Regierung der alten weissen israelische Elite, der Aschkenase. Das sind Menschen, die sich alle irgendwie nah sind. Der Likud dagegen war eine Revolution der arabischen Juden: der ehemals Ausgeschlossenen. Und war daher so lange erfolgreich. Zumal in Verbindung mit den beiden rechten Parteien.

Was die Klasse ablöst, ist die Identität. Die Frage, was Israel bedeutet, wird neu verhandelt. Und in diesen Verhandlungen ist auch die arabische Gesellschaft mit einbezogen. Man wird sich annähern, aber nicht assimilieren. "Gleichheit ist eine Leidenschaft, die nicht befriedigt werden kann." (Al­exis de Toc­que­vil­le).

!
Weil Israel offener geworden ist, sind die Kämpfe heftiger geworden.
?
Was bedeutet das für den "save haven" heute und morgen? Wird das die jüdische Bevölkerung im Ausland mehr und mehr - nunmehr im doppelten Sinne - ausgrenzen?

Mehr dazu und noch viel mehr in: "Fluchtpunkte der Erinnerung"

16.30 Uhr Zusammenfassung, Ausblick und Verabschiedung

Der Versuch, alle noch anwesenden Gäste am Ende der Veranstaltung um ein gemeinsames Foto zu bitten, war mit so viel innerer Aufregung verbunden, dass die Aufnahme unscharf geblieben ist. Dennoch sei ihnen an diese Stelle nochmals herzlich gedankt:

Polly Bronstein | Maisam Jaljuli | Natan Sznaider | Ofer Waldman | Richard C. Schneider !

P.S.

Kaum war dieser Beitrag fertiggestellt, begann diese Sendung von Jochanan Shelliem auf Deutschlandfunk Kultur:
 Adolf Eichmann. Begegnung mit einem Mörder.

In diesem Zusammenhang nochmals diese Hörempfehlung:
 Adolf Eichmann: Ein Hörprozess
Ein dokumentarisches Hörspiel von Noam Brusilovsky und Ofer Waldman. Regie: Noam Brusilovsky. Produktion: rbb/ Deutschlandfunk 2021.

Anmerkungen

[1Neben anderen Vorschlägen, zu denen gehört, einen Abend zu gestalten, in dem die Geschichte Israels im Echo seiner Lieder erzählt wird, wie zum Beispiel hier 2011 von Bruce Dickinson (von Iron Maiden als Gast bei Jethro Tull):


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