Theater Bochum in Berlin mit: "Kinder der Sonne"

VON Dr. Wolf SiegertZUM Donnerstag Letzte Bearbeitung: 30. Mai 2023 um 11 Uhr 54 Minutenzum Post-Scriptum

 

I.

Wäre aus dem nachfolgenden Text eine Theater-Aufführungs-Rezension geworden, hätte der erste Satz in etwa so gelautet:

Eine Inszenierung, die sich in jene Zeit zurücksehnt, in der die SPD noch eine feste Bastion für all jene Menschen war, die an diesem Abend auf der Bühne nicht zu sehen waren.

Ganz am Ende hört man diese Menschen, als sie das Haus stürmen wollen - in dessen Inneren wir als Publikum den gesamten Abend verbracht und den Protagonisten dort zugeschaut und zugehört haben - nur "vom Band" per Lautsprecher eingespielt.

Der Aufstand bleibt eine Konserve, die Pandemie ein Gespenst. Das eigene Leben - auch das des Publikums?! - wird (er-)kenntlich in den Verhaltensmustern der Bühnenfiguren.

Die ersten Minuten

Aus dieser Klassengesellschaft kommend, sieht man im ersten Auftritt ’nur’ den Hausmeister. Man hört ihn nicht, nur seine Leiter, mit der er auf dem Boden aufschlägt. Und als er sie bestiegen hat, um ein Stromkabel zu lösen, hören wir ihn bei seiner Arbeit singen. Weder er, noch die Hausangestellte, die noch vor Ende des Stückes ihre Kündigung erklärt und noch für den gleichen Abend um die Verfertigung des Kündigungsschreibens ansucht, sind Teil jener Leute, die dieses Haus bewohnen - oder aufsuchen.

Diese Menschen, die sich ’natürlich’ über ihre Frauen- und Männer-Rollen definieren, finden aber heraus, dass sie genau das in der ’Rolle’, die sie an diesem Abend, in dieser Inszenierung, aber eben auch in dem sozialen Gefüge dieses Stückes zu ’spielen’ haben, n i c h t sind: Der Ehemann ist Wissenschaftler, der für seine Frau - und damit eigentlich auch für sich selbst - keine Zeit hat. Die Hausangestellte ist als Frau nur das Wert, was ihr die Männer an monatlichen Rubelzahlungen für einen Ehevertrag anbieten. Und die zwei Frauen, die sich um den gleichen Mann bemühen, entscheiden sich in ihrem Dialog letztlich dazu, sich nicht als Frauen, sondern als "Menschen" zu definieren...

II.

Halt, Stopp, Break: einen solchen Text, der sich in alle die Feinheiten und auch Schönheiten dieses Theaterabends bezieht, wird es hier nicht geben. Das soll Anderen aus ihre weit mehr dafür berufenen Mündern verkündet und besprochen werden. Schliesslich ist die heute an diesem Abend live im Saal erlebte Inszenierung eine von Dreien, die auch ab dem 20. Mai 2023 im Programm von 3sat in ganzer Länge vorgestellt werden. Und dafür wird es sicherlich gute Gründe geben.

Der Ansatz hier ist ein ganz anderer. Ein geradezu brutal naiver - wie ehrlicher.
Es gab eine hausinterne Empfehlung, sich dieses Stück im Haus der Festspiele anzusehen. Und es gab die persönliche Entscheidung, auf dieses Stück in keiner Weise auch nur irgendwie vorzubereiten.

Dabei trifft 24 Stunden vor Beginn der Aufführung eine Mail in der der Theatergast wie folgt begrüsst wird:

Liebe Freund*innen der Berliner Festspiele,
wir freuen uns, Sie in der 60. Festivalausgabe des Theatertreffens mit „Kinder der Sonne“ im Haus der Berliner Festspiele begrüßen zu dürfen! [...]
Ablauf
Der Einlass in das Foyer ist ab ca. 15:30 Uhr möglich.
Im Oberen Foyer findet um 16:00 Uhr das Gespräch „Women at War“ und um 18:15 Uhr im Unteren Foyer die Performance „Odbicia“ bei freiem Eintritt statt.
Um 19:00 Uhr beginnt die Vorstellung auf der Großen Bühne. Im Anschluss an die Vorstellung findet die Künstler*innenehrung im Oberen Foyer statt statt.

Schade, diese Informationen kommen zu spät, um den für diesen Tag schon fest durchgetakteten Zeitplan nochmals umwerfen zu können. Aber vielleicht ist danach noch Zeit für die Auszeichungsversammlung aller Beteiligten ab 23 Uhr [1].

Was für ein Angebot, mit allen den Menschen, die an der Vorbereitung und Durchführung diese Produktion auf, vor und hinter Bühne nochmals sprechen zu können.

Also wurde dies Gelegenheit auch genutzt, aber die nachfolgenden Gespräche wurden ausschliesslich mit anderen Publikumsgästen geführt. Denn zunächst hatte diese Aufführung aus eigener Sicht nur von daher das Prädikat "besonders bemerkenswert" verdient, als sie in ihrer Wirkung eine fast komplette Sprachlosigkeit hervorgerufen hatte. Und das war zunächst, wie schon angedeutet, der eigenen geradezu brutalen Naivität zuzuschreiben.

III.

So sah das Ticket aus:

Die Rede war von

Theater Tanz & Performance
Kinder der Sonne
Schauspielhaus Bochum.

C’est tout.

Nun gut, so war der Gedanke. Gehen wir vollkommen vorurteilsfrei und jenseits jeglichen bildungsbürgerlichen Ballastes in diese Veranstaltung hinein, ohne zuvor auch nur die geringste Ahnung zu haben, was einen da erwarten könnte.

Angeregt wurde ein solchen Vorgehen durch die Ankündigung, in der oben erwähnten kurz zuvor empfangenen Mail, die da lautete:

Wer hat das Privileg, nicht zu wissen?
Antworten, Überlegungen und neue Fragen
In der Konzeption der diesjährigen Festivalausgabe spielte die Frage „Wer hat das Privileg, nicht zu wissen?“ eine besondere Rolle. Dieser Digital Guide soll – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – den Antworten, Perspektiven und Überlegungen von jungen Kulturschaffenden Raum geben, die das Theatertreffen 2023 im Rahmen der Formate Internationales Forum und Theatertreffen-Blog besucht und begleitet haben.

© N.N.

Also schauen wir auf den Digital Guide und hoffen auf Stellungnahmen von einer oder mehrerer der Kulturjournalistinnen aus der Generaton Z & Y, die an diesem Abend in dem voll besetzten Haus so gut wie nicht vertreten war.

IV.

Dabei war die Entdeckung dieses Abends eigentlich die Entdeckung eines anderen selbst, von einer geradezu mehr und mehr um sich greifenden Enttäuschung darüber, dass hier ein Stück in einer Art gezeigt wurde, wie es nicht einmal mehr vor einem halben Jahrhundert auf einer jener Bühnen hätte aufgeführt werden können, an denen sich der Autor dieser Zeilen seine ersten eigenen Sporen verdient hatte, als Inspizient und Tonmeister, als Assistent und "künstlerischer Mitarbeiter" (ein damals erst ganz neu eingeführter Begriff).

Ja, die erste eigene Schülertheater-Inszenierung hatte noch was von jenem Duktus, der hier an diesem Abend Perfektion zur Darstellung gebracht wurde. Ja, die ersten Erfahrungen mit SchauspielerInnen wie Hannelore Schroth und O.E.Hasse, oder mit einem Komödianten wie Werner Finck, tauchen in der Erinnerung bei der Begegnung mit den Darstellungsmusterns dieses Abends wieder auf. Aber nichts davon, was in der gemeinsamen Arbeit mit einem Minks oder Grüber, mit Fassbinder oder Tabori von Bedeutung war (und dabei ist an dieser Stelle von Kurt Hübner, der ja einst auch Intendant dieses Hauses gewesen war, noch gar nicht die Rede gewesen).

V.

Oder sagen wir es anders, ohne dadurch dann doch wieder in eine Rezensions-Attitüde zurückgeworfen zu werden: Die Qualität des Stückes liegt gerade darin, dass es so entscheidende Entwicklungen wie einen Volksaufstand und eine umsichgreifende Pandemie zum Ende hin kulminieren lässt - und zugleich diese gesellschaftlichen Konflikte spiegelt in den Entwicklungsgeschichten der vorgestellten Personen. In ihrer durch die Ökonomie geprägten Existenz - und durch ihre Einsamkeit (eigentlich sollte man schreiben, ihrer "Einsamkeiten").

Und - und insoweit die Kritik - wenn man sich denn dieser Thematik stellen und von der Rampe sprechen lassen will, hätte es zwar nicht ihrer ’Aktualisierung’ bedurft, wohl aber in ihrer permanenten Spiegelung in den Personen und in den von ihnen ausgelösten Handlungsverläufen: Ja, am Schluss verlangt der Mann von seiner Frau nach einem Krankenbesuch ein Bad zu nehmen und die währenddessen getragenen Kleider zu verbrennen. Ja, am Schluss werden Eingänge verriegelt und Schränke vor die Fenster geschoben. Ja, das Dienstmädchen hat das Haus verlassen, und ja,das Paar, das sich neu hätte finden können, zerbirst am Selbstmord und im psychiatrischen Kollaps... Ja, aber der Weg dahin, die dahinterliegende Dynamik, die anschwellenden ‚Dramatik‘ dieses drohenden Dramas eines Untergangs, all das konnte - zumindest in der eigenen Wahrnehmung - im Verlauf dieses Theaterabends nicht wirklich erspürt werden.

VI.

Dem Publikum erging es wohl anders. Auf jeden Fall spricht der Applaus eine andere Sprache:

Der Schlussapplaus

Sollen sie Jubeln und Klatschen. Und sei es auch nur um der klammheimlichen Freude willen, überhaupt wieder einer Theateraufführung beiwohnen zu können.

P.S.

VII.

Auch am Ende der Woche stehen immer noch zwei Träume im Weg, die sich in der Nacht nach diesem Theaterbesuch ereignet haben. In dem ersten geht es um ein erfolgreiches Angebot an eine Frau, dass wir uns - mit geschlossenen Augen - kennenlernen. In dem zweiten ist Kurt Hübner auf der Bühne eines noch viel grösseren und moderneren Theaters zu sehen als jenem, das in dieser Woche besucht worden war. Auch dieses ist voll besetzt. Und er dankt von der Bühne aus seinen Freunden und MitarbeiterInnen und plötzlich gibt es ein Spitzlicht auf den eigenen Kopf, obwohl unter dem Rang eher weit hinten sitzend, und einen kurzen Applaus.
WS.

VIII

Am Ende der Folgewoche moderiert Britta Bürger die Sendung "Fazit. Kultur vom Tage" im Deutschlandfunk Kultur. Der Beitrag von André Mumot kann hier nachgehört werden: Kontroverse Abschluss-Debatte zum Berliner Theatertreffen.

Gleich zu Beginn wurde erneut diese Aufführung im Zusammenhang mit der Verleihung des "Alfred Kerr Darstellerpreises für ein Nachwuchstalent" angesprochen.
Gelobt wird die Leistung als "traumhafter Ensemblespieler" des Preisträgers Dominik Dos-Reis. Und weiter:

Dese Inszenierung [...] ist eine ganz ganz besondere in diesem Theatertreffen gewesen oder überhaupt in unserer deutschsprachigen Theaterlandschaft, weil da eben unglaublich zurückhaltend, naturalistisch gespielt wird.

Anmerkungen

[1


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