Wir: im Theater und ihr: da Draussen?!

VON Dr. Wolf SiegertZUM Samstag Letzte Bearbeitung: 17. Juni 2024 um 18 Uhr 23 Minutenzum Post-Scriptum

 

Hier gibt es zunächst nicht mehr zu lesen als das Programmangebot der Berliner Festspiele für diesen Tag in der Reihe: Reflexe & Reflexionen zu dem Thema: Der 7. Oktober, der Gaza-Krieg und die Debatte in Deutschland, kuratiert von Saba-Nur Cheema und Meron Mendel. Diese Thementage begannen am 13. und enden am 15. Juni 2024 [1].

Das Programm dieses Tages beginnt mit ...

> Zwischen Solidarität und Hass. Auswirkungen auf die Gesellschaft in Deutschland
Mit Alena Jabarine – Journalistin | Per Leo – Historiker und Autor | Meron Mendel – Historiker und Autor
Moderation Vivian Perkovic – Journalistin, Fernsehmoderatorin

... endet mit dem "Late-Night-Programm" ...
> Stand-up-Comedy
Mit: Abdul Kader Chahin – Comedian | Shahak Shapira – Schriftsteller und Comedian

... und trotz des Angebotes einer berichterstattenden Teilnahme die Entscheidung getroffen, an diesen beiden Veranstaltungen nicht teilzunehmen und auch die Tage davor und danach nicht zu erscheinen. Das Thema ist nach wie vor so virulent und von solch persönlicher Bedeutung, dass nur mit Respekt anerkannt werden kann, wie so viele Andere in der Lage sind, darüber zu sprechen.

Die lange persönliche Verbindung mit dem Theater im Allgemeinen und diesem Haus und seiner Geschichte als Volksbühne in der Intendanz des einstigen Bremer ’Ziehvaters’ Kurt Hübner im Besonderen hat dann doch die Entscheidung reifen lassen, ab 19 Uhr dieser deutschen Erst-Aufführung des théâtre national, Paris La Colline [2] beizuwohnen:

> House
Einführung im Oberen Foyer um 18:30 Uhr

„House“ ist eine Adaption der gleichnamigen Dokumentarfilmtrilogie (1980, 1998 und 2005), in der der israelische Regisseur Amos Gitai über mehrere Jahrzehnte ein Haus in Westjerusalem und dessen Bewohner*innen porträtierte.

Mit [3]:
Irène Jacob, Bahira Ablassi, Micha Lescot, Minas Qarawany, Murad Hassan, Pini Mittelman, Menashe Noy
Alexey Kochetkov, Kioomars Musayyebi – Musiker*innen
Dima Bawab – Sopran
Danni O’Neill, Nathan Mercieca, Mark Bonney – Chor

Künstlerisches Team:
Amos Gitai – Regie, Text und Bühnenbild [4]
Marie-José Sanselme, Rivka Gitai – Textbearbeitung
Marie La Rocca – Kostüme
Cécile Kretschmar – Maskenbild und Perücken
Jean Kalman – Licht
Éric Neveux – Sounddesign
Richard Wilberforce – Musikalische Leitung
Laurent Truchot – Mitarbeit Video
Katharina Bader – Übertitelerstellung und -inspizienz

P.S.

Anstatt eine Rezension

Es ist so gekommen, wie erwartet, oder auch vorhergesehen: Diese Aufführung nimmt alle Sinne gefangen und bleibt dennoch in ihrem Gestus klar und episch, sodass die vorgetragenen Gedanken und Zustände, Befindlichkeiten und Reaktionen im Kopf ankommen können. Diese Aufführung ist weder klassisches Theater noch Oper, obwohl mit wunderbaren Stimmen ausgestattet und über lange Passagen hinweg mit Musik unterlegt. Direkte Dialoge zwischen den Beteiligten sind eher die Ausnahme, die direkte Ansprache des Publikums die Regel. Aber auch andere Zuschreibungen wie die des dokumentarischen Theaters oder gar einer Nummernrevue gehen ins Leere.

Denn schließlich spielt der Film (und dessen Geschichte), der dieser Inszenierung vorausging, weiterhin eine bedeutende Rolle. Auch wenn er nicht das Schwergewicht der Inszenierung ausmacht, aber dann doch an deren Ende mit den darin dokumentierten Hammerschlägen ein klares Zeichen setzt. Zuvor sind nicht nur immer wieder Ausschnitte aus der Filmdokumentation auf der hinteren Leinwand zu sehen, sondern auch eine Reihe von Livebildern, die vom Schnürboden aus mit der Kamera aufgenommen werden. So wird selbst der gemeinsame Blick der Protagonisten in ein Fotoalbum für uns alle im Zuschauerraum sichtbar.

Am Ende der fast zweieinhalbstündigen Abfolge von Eindrücken und immer wieder neuen sich verdichtenden Textaussagen kommen nach dem belebenden Beifall die Tränen. Es bedarf einiger Zeit, sich von dem Gewicht der Eindrücke zu befreien, solange, bis eine Mitarbeiterin des Hauses den Gast bittet, den Saal zu verlassen.

Es ist beeindruckend erlebt zu haben, wie die Wirklichkeit durch die Mittel des Theaters nicht verdrängt, sondern mit eben diesen Mitteln exemplarisch herausgestellt / wieder hergestellt wird. Die vielen Sprachen, die vielen Standpunkte, die unterschiedlichen Herkünfte, Erwartungen und Perspektiven der Protagonisten geben ein ebenso kompaktes wie geradezu opulentes Gesamtbild all jener Wirklichkeiten wieder, so wie sie sich den jeweils Betroffenen in ihrer Partikularität aufdrängen. Es gelingt für uns im Zuschauerraum mit den Mitteln des Theaters eine Transparenz zwischen all diesen verschiedenen Positionen herzustellen, so wie es den unmittelbar Beteiligten in ihrer jeweiligen ’Rolle’ nicht möglich ist.

Es ist vielleicht kein großes Wort, mit dem man diesen Eindruck abschließend beschreiben kann, aber es ist die besondere Qualität dieses Abends, dass es gelungen ist, uns nicht zu Voyeuren zu machen, sondern zu Teilhabern in einem polymorphen Kosmos, den wir sonst in seiner Dichte und latenten Exklusivität selbst nicht hätten erfassen können.

Dafür allen Beteiligten und jenen, die diese Arbeit ermöglicht und finanziert haben, ein großer Dank.

Dass an den Eingängen und rund um das Theater herum Polizei stationiert werden musste, ist bitter genug, und nicht aus den Eindrücken von diesem Abend auszugrenzen. Es ist daher umso besser, berichten zu können, dass an diesem Abend von keiner Seite Angriffe und Eingriffe jedweder Art vorgenommen wurden. Außer von jenen - und das mit all ihrer Legitimität - die auf der Bühne standen.

WS.

Anmerkungen

[1Und wurden erstmals am Sonntagabend in der Sendung Fazit im Deutschlandfunk Kultur zusammengefasst von Gerd Brendel unter dem Titel: Thementage in Berlin: Der 7. Oktober, der Gaza-Krieg und die Debatten, wobei von der an diesem Tag besuchten Aufführung ein kurzer akustischer musikalischer Eindruck, aber keine persönliche Besprechung zu hören ist:

Thementage in Berlin: Der 7. Oktober, der Gaza-Krieg und die Debatten

[2

© House © La Colline – théâtre national

[3

Vielstimmiges Ensemble
Schauspieler*innen und Musiker*innen, die Wurzeln im Nahen Osten, im Iran und in Frankreich haben, stehen gemeinsam auf der Bühne. Es ertönen Musik aus verschiedenen kulturellen Traditionen und zahlreiche unterschiedliche Sprachen: Arabisch, Jiddisch, Französisch, Hebräisch, Englisch, Armenisch und Türkisch. Durch die Zusammensetzung des Ensembles und seine Vielsprachigkeit versucht „House“ einen Dialog zu erschaffen, in dem israelische und palästinensische Geschichte gleichberechtigt nebeneinanderstehen. Mit der zurückhaltenden Geste eines aufmerksamen Beobachters stellt Amos Gitai unterschiedliche Erinnerungen und Wahrnehmungen dar: Erleichterung über die Errichtung eines jüdischen Staates als ein Versprechen für Sicherheit und Verzweiflung über die Vertreibung von Palästinenser*innen aus der Heimat haben beide ihren Platz.

[4

Der Filmemacher als Archäologe
Der ausgebildete Architekt Amos Gitai (geboren 1950 in Haifa) machte erste filmische Experimente mit einer Super-8-Kamera während seines Einsatzes im Jom Kippur Krieg (1973), wo er einen syrischen Raketenangriff auf den Evakuierungshubschrauber, in dem saß, überlebte. Der erste Teil der „House“-Trilogie (Bait, 1980) war eine Auftragsarbeit des israelischen Fernsehens, wurde aber zensiert und nicht ausgestrahlt. Er ging dann nach Paris, um seine filmische Arbeit weiter zu verfolgen. Später kehrte er zu diesem Haus und den Menschen, die mit ihm verbunden sind, zurück und drehte zwei weitere Teile. Der international bekannte und vielfach ausgezeichnete Regisseur lebt heute in Paris und Israel und hat über 90 Dokumentar-und Spielfilme geschaffen. Seit einigen Jahren ist Amos Gitai auch als Theaterregisseur tätig, u. a. am Théâtre de la Ville in Paris, beim Spoleto Festival in Charleston, USA, am Coronet Theater in London, am Odéon - Théâtre de l’Europe in Paris und am Burgtheater Wien. In vielen seiner Arbeiten beschäftigt er sich mit den Widersprüchen seiner Heimat Israel. Dabei vergleicht Gitai seine Arbeit mit der eines Archäologen: Behutsam wird Schicht um Schicht freigelegt, um mehr über die komplexen Untergründe der Gegenwart zu erfahren.


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