Beginnen wir in diesem Kommentar mit dem besten aller Ergebnissen dieser Europawahl: in der Bundesrepublik Deutschland haben 64 % aller Wahlberechtigten ihre Stimme abgegeben. Über dieses gute Ergebnis wird es ein Einverständnis geben über alle politischen Fraktionen hinweg. Aber das war’s dann auch mit dem politischen Konsens.
Ja, es gab Jubel: beim Bündnis Sahra Wagenknecht, bei der CSU und der CDU (auch wenn diese das bis dahin bei Europawahlen schlechteste Ergebnis eingefahren hatten), und bei der Alternative für Deutschland (die in allen Bundesländern der ehemaligen DDR die Mehrheit aller Wählerstimmen auf sich hat vereinigen können). Besonders bitter das Ergebnis für die Sozialdemokraten, die seit der Geschichte der Europawahlen als schlechteste Kanzlerpartei überhaupt in diesem Zeitraum abgeschlossen haben.
Und nicht nur das: bundesweit haben die Sozialdemokraten schlechter abgeschnitten als die Alternative für Deutschland.
Noch sind die Kommentare in den bundesdeutschen Zeitungen ob dieser Ergebnisse nicht veröffentlicht (werden aber im Nachgang zu diesen Zeilen hier mit einem Einblick der DlF-Presseschau aus deutschen Zeitungen ebenfalls zitiert werden [1] [2]. Dabei werden dann auch schon die Ergebnisse aus anderen europäischen Ländern Berücksichtigung finden. Aber schon jetzt ist klar, dass die Ergebnisse in Frankreich noch eindeutiger von rechtsnationalen Strömungen repräsentieren werden als hier in Deutschland. Die 30 %, die die Alternative für Deutschland im Osten der Republik eingefahren hat, gelten in Frankreich für das Rassemblement für den gesamten Nationalstaat.
Das bedeutet, dass der vor 40 Jahren gewählte Weg aus der Bundesrepublik in das französische Exil unter diesen aktuellen Bedingungen keine Alternative mehr aufzeigt. Mehr noch, so wie es Kevin von der SPD deutlich und ohne Schnörkel zum Ausdruck gebracht hat, es gelte jetzt die Fehler aufzuarbeiten und sich dennoch gemeinsam mit jenen Themen zu profilieren, die eigentlich auch die Spitzenthemen bei den Wahlentscheidungen widergespiegelt haben, aber nicht auf die SPD eingezahlt.
Aus der eigenen Sicht geantwortet bedeutet dieses Ergebnis: nicht flüchten, sondern standhalten.
Das eigentlich Bittere an diesem Wahlergebnis ist, dass die meisten der hier vorgestellten Ergebnisse in der eigenen Prognose schon seit längerer Zeit festgestanden und insofern keine Überraschungen mehr ausgelöst haben. Was die Frage auslöst, warum es jenen Menschen, die in der Politik professionell zu Hause sind, nicht möglich war, schon im Vorfeld der Wahlen auf solche vorhersehbaren Entwicklungen adäquat zu reagieren. Exemplarisch kann diese Frage an die Fraktion der Grünen gestellt werden, die nicht nur in Deutschland katastrophal abgestürzt sind. Und das, wie immer wieder zu hören ist, zu Recht, seitdem ausgerechnet das Thema "Sicherheit" in den Wahlplakaten dieser Partei als Wahlargument von überragender Bedeutung ausgewiesen wurde.
Deshalb wird in diesem Kommentar hier und heute zunächst nur auf die Entwicklungen in der Bundesrepublik eingegangen werden, obwohl es sich eigentlich um eine sogenannte Europawahl gehandelt hat. Denn wer in den vergangenen Wochen über die Dörfer und durch die Städte gefahren ist, wurde fast ausschließlich mit Wahlpropaganda konfrontiert, die sich auf nationale Befindlichkeiten bezog. Europa war zwar der Anlass, aber kaum der Gegenstand dieser Wahl-Propaganda. Und so ist es denn auch nicht verwunderlich, dass zunächst am Abend des vorangegangenen Sonntages die Ergebnisse auf dem Hintergrund dieser nationalen Befindlichkeiten interpretiert wurden: bis hin - beflügelt von den Lobpreisungen der noch amtierenden Parlamentspräsidenten - zu Rücktrittsforderungen der CDU an den SPD-Kanzler.
Es werden Tage und Wochen verstreichen, bevor klar sein wird, in welchen neuen Koalitionen sich die Parteien auf europäischer Ebene arrangieren und zusammenfinden werden. Will die bisherige Parlamentspräsidentin weiterhin das Zepter in der Hand behalten, muss sie deutliche Kompromisse entweder mit den “Roten“ oder jenen Parteien (von Giorgia Melonie bis Marine Le Pen) machen, die noch weiter rechts außen von der EVP stehen und damit den großen bisherigen Ansprüchen von Klimaschutz bis zur Migrationspolitik deutlich widersprechen.
Auch wenn die jungen Leute sich vorrangig den kleineren Parteien zugewandt haben – auch der AfD - so fällt es schwer, allein diese Beobachtung als ein Hoffnungszeichen zu interpretieren. Und wenn jetzt ein Blick in die Zukunft gewagt werden darf, dann liegt die proklamierte Katastrophe nicht allein in der weiteren deutlichen Verschiebung der Machtverhältnisse in Richtung sich weiter deutlich verstärkenden nationalen Strömungen, sondern sie wird sich in Zukunft dadurch bemerkbar machen, das es immer schwieriger werden wird, noch mit Hoffnung oder gar Euphorie auf die Zukunft Europas als einem supranationales Gebilde zu schauen. Mit Projekten wie die einer gemeinsamen Wirtschaftspolitik oder Militärpolitik: diese werden allenfalls noch unter dem äußersten Druck externer Faktoren zu einem notgedrungenen Pragmatismus geschuldeten Entwicklungen Anlass geben.
Der Anspruch, sich gegenüber den Großmächten in den USA und der VR China, aber auch Indien oder den Ländern Saudi-Arabiens behaupten zu wollen, wird immer weniger Chancen für eine erfolgreiche Umsetzung finden.
Ja, es ist ein Fortschritt, dass in der Bundesrepublik Deutschland an dieser Europawahl schon Menschen ab 16 Jahren beteiligt waren. Aber selbst das wird keinen Jungbrunnen für die europäische Idee zur Folge gehabt haben. Denn gerade ihr Wahlverhalten hat gezeigt, dass Menschen zwischen 16 und 24 Jahren sich vor allen den kleinen und Kleinstparteien zugewandt haben.
Aber dieser Umstand allein wird nicht verhindern, dass die Zukunft im Europäischen Parlament noch schwärzer aussehen wird, als es die Hochrechnungen bis zu diesem Zeitpunkt – Sonntagabend 20:00 Uhr – anzudeuten scheinen. So wie es derzeit aussieht, wird es in fünf von den sechs europäischen Gründungsländern eine Dominanz nationalistischer Parteien geben.
Ja: Es ist absolut ungewöhnlich, dass auf dieser Plattform ein eigener politischer Kommentar niedergelegt und veröffentlicht wird. Aber wenn die Aufforderung an die Politik geht, sich ihrer Verantwortlichkeit über die Propaganda einer Wahlplakataktion hinauszustellen, dann darf man sich auch persönlich eben dieser Verantwortlichkeit nicht entziehen und muss selbst Stellung beziehen. Vielleicht weniger plakativ, aber umso entschlossener. Denn heute ist ein Auswandern aus Deutschland - etwa nach Frankreich?! - keine Alternative mehr.
WS.