Das Volk fährt Bahn...

VON Dr. Wolf SiegertZUM Dienstag Letzte Bearbeitung: 11. August 2022 um 19h31min

 

Das Volk fährt Bahn - und ich fahr mit.
Bin ich jetzt ein Trittbrettfahrer?

In diesem Selbstversuch geht es um eine Reise von Berlin nach Hamburg - und zurück,

Nachdem für die Anreise kein Ticket mehr gebucht werden konnte - siehe den Bericht vom Vortag - gibt es als Alternative eine Verbindung mittels zweier Regionalzüge: dem RE 2 mit der ODEG bis Schwerin

und von dort aus mit dem Hanse-Express RE 3 bis Hamburg [1].

Also ist die Abfahrt auch nicht von Berlin Hauptbahnhof, sondern von Berlin Zoologischen Garten: Welche Erinnerungen kommen dort auf, als es einst möglich war, von dort aus den Nachtzug bis Paris besteigen zu können. Heute, genau an diesem Tag vor 75 Jahren, war die Air France zum ersten Mal von Paris nach Frankfurt am Main geflogen [Air France Gemany: [

Am 9. August 1947 landete erstmals eine DC-3 aus Paris-Le Bourget auf dem Rhein-Main Airport

]] ist alles vorbei. Jetzt ist die gesamte Station nach mehrjähriger Bauzeit renoviert worden. Aber beim Abstellen des Mopeds vor dem Eingang ist es nach wie vor schwierig, einen Platz zu finden, an dem nicht sogleich die Räder durch die vielen herumliegenden Glassplitter zum Platzen gebracht werden.

Der Zug trifft so rechtzeitig am Bahnsteig ein, dass es genügend Zeit gibt, sich vom Personal bis zu einem freien Sitz gleich neben der Fahrzeugführerkabine geleiten zu lassen. An der Glastür zur Fahrerkabine ist ein Plakat angebracht mit der Frage: "WARUM FAHREN SIE DIESEN ZUG NICHT SELBST?"

Neben mir sitzt eine junge Frau und tippt auch schon seit Anbeginn der Fahrt einige Zeilen in ihren Laptop. Schlisst diesen nach einiger Zeit und öffnet ihn dann wieder, um das Schreiben fortzusetzen. Das geht so eine Stunde lang. Dann ist Schluss und alles wird weggesteckt. Und nur noch das Smartphone bedient.

Die beobachtende Neugier bezieht sich weniger auf das, was sie schreibt, sondern wie: Fast alle Tasten werden mit zwei bis drei Fingern der rechten Hand bedient, nur wenn es um die Gross- und Kleinschreibung geht, wird gelegentlich der Daumen aus der linken Hand zusätzlich mit in den Dienst gestellt.

Viel Text kommt bei dieser Art zu schreiben nicht zustande. Zumal alle Fingerspitzennägel mit viel Kunst und Farbe verlängert sind und so ein Auflegen der Hand auf der Tastatur eh’ fast unmöglich machen. Dennoch gelingt es, etwas zuwege zu bringen. Und das ist dann - für Sie - auch gut so.

In dieser ersten Stunde wird die Zeit allein damit vertrieben, all die auf dem eigenen Smartphone aufgelisteten SMS- und Signal-Adressen zu ’flöhen’ und viele kurze Nachrichten an all jene Menschen zu schreiben, bei denen man sieh eh’ schon seit Jahr und Tag gerne wieder hätte melden wollen.

So vergeht die Zeit im Zug (fast) wie im Fluge.

Beim Nachdenken kommt die Frage auf, warum es überhaupt richtig gewesen sei, auf dieser Stippvisite Richtung Hamburg einen eigenen Rechner überhaupt mitzunehmen. Der Anlass dafür war eigentlich der Absicht, im Verlauf dieser langen Reisezeit - vier statt zwei Stunden bis Hamburg - sich die Lektüre der Promotion eines Freundes zu widmen, in der es um das Thema "Samurai und Geld" geht.

Das Besondere an diesem Rechner ist, dass man den Bildschirm vom Tippteil abkoppeln und diesen so auch als Tablett nutzen kann. Aber dann kommt bei der langen Nutzung des Smartphones die Frage auf, warum denn dieser Text als PDF nicht auf dieses Teil geladen wurde und damit dann das Mitschleppen des Rechners überflüssig geworden wäre. Dann aber kommt, nach einer guten Stunde, doch die Idee auf, diesen Text zu beginnen. Und damit erweist sich dann diese Entscheidung – zumindest für diesen Moment – als sinnvoll. Und vielleicht sogar sinnstiftend.

Dabei ist auch all das, was es weiterhin von dieser Anreise nach Hamburg zu erzählen gäbe, eher banal. Wobei es schon als eine Ausnahme zu erwähnen gilt, dass auch nach dem Umstieg in Schwerin ein Sitzplatz organisiert und dann auch genutzt werden konnte, schon etwas Besonderes. Zumal es so scheint, dass die Mehrzahl der Fahrgäste auf der Strecke im R3 Richtung Hamburg nicht sitzen, sondern stehen.

Ob das gut gehen wird, noch bis Hamburg?

Auf jeden Fall lässt sich das aus dieser Sitz-Position alles gut beobachten und ertragen. Das Geplärre der Kinder ebenso wie das Gedränge der Fahrradfahrer. Der Blick nach Draußen gibt die Sicht auf viel Landschaft frei, einen knallblauen Himmel, Getreideanbau und Tierhaltung aller Arten. Und dann die Namen von all diesen Orten, an denen beide Zöge immer wieder einen kurzen Halt machten. Oftmals nicht mehr als nur eine Minute.

Und dennoch machen all diese Stationen klar, welch eine eingeschränkte Sicht wir als (Gross-)Städter auf dieses Land haben. So viele Menschen aus so vielen Orten, deren Namen noch nie bislang ins Bewusstsein gedrungen sind. Und die wollen auch alle noch mitfahren?

Je näher wir uns der Hansestadt Hamburg nähern, desto häufiger die Ansage, dass die zugestiegenen Fahrgäste doch bitte aus dem Einstiegsbereich heraustreten mögen, da der Zug sonst nicht weiterfahren könne… die Wartezeiten, auch an den kleinsten Haltestellen, werden länger und immer länger.

Aber dann, in Hamburg angekommen und von vielen lieben Menschen am Hauptbahnhof empfangen, war all das vergessen. Im Reisezentrum konnte das Ticket für die Rückfahrt erworben werden und alsdann drängte sich die Stadt mit ihrem Flair in den Vordergrund der Wahrnehmung.

Zurück nach Berlin ging dann alles ganz schnell.

Es gab freie Plätze in der zweiten Klasse, auch ohne Reservierung. Und nach einer verspäteten Abfahrt kam der Zug dennoch pünktlich in Berlin-Spandau an, wo dann fünf Minuten länger als geplant auf den Anschlusszug über Berlin-Zoologischer Garten in Richtung BER zu warten war.