BETTINA

VON Dr. Wolf Siegert, Gabriele LeidloffZUM Montag Letzte Bearbeitung: 4. November 2022 um 21 Uhr 35 Minutenzum Post-Scriptum

 

Bettina
Von Gabriele Leidloff und Max-Peter Heyne

Von der Berliner Sängerin und Lyrikerin Bettina Wegner werden viele Zuschauer*innen vielleicht ihr berühmtestes Lied „Kinder - sind so kleine Hände“ kennen, das sogar von Joan Baez in einer englischen Fassung gesungen wurde. Doch das Wirken Wegners auf diesen Erfolg zu verkürzen, wäre schade und unangebracht, weswegen der Dokumentarist Lutz Pehnert es in seinem ausführlichen Porträt über Wegner nahezu ignoriert. Stattdessen präsentiert er andere Lieder von Wegner, die als Sängerin und Texterin ein Ausnahmetalent ist. In ihrer Karriere spiegelt sich die komplizierte Beziehung zwischen den beiden deutschen Staaten in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, was Pehnert anhand des umfassenden Archivmaterials schildert.
Bettina Wegner wurde zwar 1947 in Westberlin geboren, da ihre Eltern sich aber die Miete im Westteil nicht leisten konnten und sie der DDR ohnehin mit Sympathie gegenüberstanden, siedelten sie nach Ostberlin um. Nachdem die junge Wegner Bibliotheksfacharbeiterin gelernt hatte, begann sie 1966 ein Schauspielstudium, arbeitete aber nie in diesem Beruf. Ihr sängerisches Talent wurde entdeckt und gefördert; schon früh konnte sie mit ihrer kräftigen, dunklen Stimme ganze Säle fesseln. Für die DDR-Kulturbürokratie – und die Schlagersendungen des DDR-Fernsehens war sie ein Gewinn – wie Aufnahmen aus den späten sechziger Jahren beweisen.
War Wegner als Kind noch überzeugte Stalinistin und als Jugendliche Unterstützerin des Sozialismus, geriet sie in der DDR wegen ihres ausgeprägten Gerechtigkeits- und Eigensinns zunehmend in Konflikt mit den Behörden. Widerspruch scheute sie nie, so wie ihre Liedtexte auch Existentialität und Unbeugsamkeit vermitteln.
Eine Flugblattaktion in Ostberlin als Protest gegen die Niederschlagung des Prager Frühlings 1968 (mit Parolen wie „Es lebe das rote Prag!“ und „Hoch Dubcek!“) brachten Wegner eine Exmatrikulation, Verhaftung und Verurteilung wegen „staatsfeindlicher Hetze“ von beinahe zwei Jahren auf Bewährung ein – die sie als junge Mutter eines Sohnes vom Theaterautor Thomas Brasch in Form einer kürzeren Untersuchungshaft absitzen musste.
Auch im Zuge der Ausbürgerung ihres Kollegen Wolf Biermann 1976 nahm der bürokratische Druck auf sie zu, aber erst im Jahre 1983 entschloss sie sich endgültig zur Ausreise und lebte danach in Westberlin, wo sie schon als DDR-Künstlerin trotz aller politischen Querelen seit den späten siebziger Jahren auftreten durfte. Auch in der Bundesrepublik wurde sie durch zahlreiche Auftritte bekannt. Das hochinteressante Archivmaterial wird ergänzt durch Ausschnitte eines ausführlichen Interviews mit Wegner, in welchem sie auf ihr bewegtes Leben zurückblickt. Dabei fallen der unverblümte Berliner Zungenschlag und ihre direkte Art auf.
Anders als bei Biermann lassen sich bei Wegner die Inhalte ihrer Lieder kaum von ihrem persönlichen Schicksal trennen, aber ähnlich wie er hat sie der oft unterdrückten, schweigenden Mehrheit in der DDR eine deutliche Stimme verliehen. Durch die kluge Auswahl und Zusammenstellung des Materials (Kamera: Anne Misselwitz, Montage: Thomas Kleinwächter) wird der Film Wegners vielseitiger Persönlichkeit gerecht. Im Schaffen Pehnerts, der bereits viele Dokumentarfilme (Ostrock – Zwischen Liebe und Zorn) und Fernsehproduktionen (DDR Ahoi!) zur DDR-Historie gedreht hat, ist dieser neue Film ein besonderes Highlight.
(4 Sterne) Kinostart: 19.05.2022

P.S.

Hier eine Aufzeichnung vom 10. Mai 2022 ab dem Ende der Erstaufführung im Filmtheater am Friedrichshain, an dem die Moderatorin Marion Brasch die Protagonistin Bettina Wegner und den Regisseur Lutz Pehnert vor die Leinwand holte:


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