Tucholsky: Freidenker, Freiwild, Freitod?

VON Dr. Wolf SiegertZUM Mittwoch Letzte Bearbeitung: 21. Dezember 2005 um 20 Uhr 41 Minuten

 

Auch das Berliner Ensemble erinnert an den Schriftsteller und Satiriker Kurt Tucholsky alias "Kaspar Hauser, Peter Panter, Theobald Tiger, Ignaz Wrobel", der heute vor 70 Jahren in seinem schwedischen Exil in der Nähe von Göteborg starb.

Wie der Rundfunk Berin-Brandenburg in seinen Nachrichten berichtet steht im Pavillon des Theaters am Schiffbauerdamm die Tucholsky-Revue "Wir Negativen!" auf dem Programm. Anke Engelsmann und Charlotte Müller sowie Ruth Glöss, Judith Strößenreuter, Thomas Schendel, Martin Seifert und Georgios Tsivanoglou singen Tucholsky-Vertonungen u.a. von Hanns Eisler, Friedrich Hollaender und Rudolf Nelson.

Da die Veranstaltung inzwischen schon ausverkauft ist, wírd es eine weitere Vorstellung am 27. Dezember geben.

Von den vielen vorliegenden Darstellungen über "Dichter und Dichtung" sei hier auf den Artikel von André Krajewski in Shoa.de verwiesen. Insbesondere, da darin erwähnt wird, dass:

 er schon während seines Studiums der Rechtswissenschaften an der Friedrich-Wilhelms-Universität in Berlin seine Erlebnisse zu Papier brachte und dabei insbesondere die Theorielastigkeit seiner Ausbildung heftig kritisierte. [1]

 sein aktives Eintreten für die Ziele der SPD ab ca. 1910 ihn auch in die "Niederungen der Ebenen der Parteiarbeit" ver-führte was ihn keine zehn Jahre danach zu einer "innerlichen Ablehnung der Partei" (A.K.) führte.

 nur seine Entscheidung sich evangelisch taufen zu lassen ihm die Chance wahrte, im preussischen Staatsdienst zum Feldpolizeikommissar befördert zu werden.

 die Widersprüchlichkeit dieses Tuns mit seiner Entscheidung, sich vor allem mit den Themen des Krieges und des Militärs auseinanderzusetzen und gegen die Todesstrafe anzuschreiben.

 seine enttäuscht klingende Feststellung, dass es ihm mit seinem so weitläufig bekanngewordenen Schreiben dennoch nicht gelungen sei, auch nur einen Polizisten von der Strasse wegzubekommen, sein Schreiben dennoch an anderer Stelle durchaus Wirkung zeitigte, nämlich als er Redakteur von dem "Pieron" wurde. [2]

 die Begeisterung des Ensembles des politisch literarische Kabarett "Schall und Rauch" für seíne Text zugleich auch zu vielen Beschimpfungen und Drohungen in anonymen Briefen und Telefonaten führte und er plötzlich zwischen Selbstmordabsichten und dem Wunsch steht, eine wohldotierte Position in der Wirtschaft annehmen zu wollen.

 die Wiederaufnahme der Arbeit bei der Weltbühne ihn zunächst nach Frankreich führt und dann auf den Stuhl des Redaktionsleiters - den er aber nach nur einem nicht so guten Jahr an Carl von Ossietzky abgibt.

 er mit seinem Artikel "Der bewachte Kriegsschauplatz" und dem darin enthaltenen Satz "Soldaten sind Mörder" grosses Aufsehen erregt, das schliesslich zu einem Prozess gegen Carl von Ossietzky führt - der letztendlich in dieser Sache freigesprochen wurde.

 er in seinem Exil und von Kranheit gezeichnet die Schriften Kierkegaards entdeckt und sich darin fast verliert.

 vor allem seine letzten Artikel - in denen er gegen den von ihm einst durchaus respektieren Knut Hamsun wetterte, der wiederum gegen Carl von Ossietzky zu Felde gezogen war, als dieser schon im KZ saß - dass diese seine Artikel von niemanden mehr gedruckt worden sind.

 dass bis heute niemand weiss, ob sein Tod am 21.Dezember um 21:55 Uhr 1935 im Sahlgrenschen Krankenhaus bei Göteborg von eigener Hand herbeigeführt wurde oder nicht.

Siehe zu dieser und anderen Fragen das Gespräch der Mitteldeutschen Zeitung mit Peter Böthig, dem Leiter des Tucholsky-Museum in Rheinsberg über jenen Mann, von dem Erich Kästner gesagt haben soll: "Ein kleiner dicker Berliner, der mit der Schreibmaschine eine Katastrophe aufhalten wollte".

Herr Böthig, heute vor 70 Jahren starb Kurt Tucholsky im Alter von 45 Jahren. War es Selbstmord?

Peter Böthig: Das ist bis heute nicht hundertprozentig geklärt. Man kann sich aber darauf einigen, dass es ein gewollter Tod war. Er hat kurz zuvor sein Testament geändert, Abschiedsbriefe geschrieben und sein Politisches Testament an Arnold Zweig geschickt. Ob er nun tatsächlich an diesem Abend vorhatte, sich umzubringen, oder ob es nicht doch eine Komponente von Unfall gab, das wird sich nicht mehr aufklären lassen.

Der Biograf Michael Hepp bringt die Möglichkeit ins Spiel, es könnte ein Selbstmord "aus Versehen" gewesen sein. Er spricht von "Tablettenautomatismus".

Böthig: Das ist die Antwort, auf die man sich einigen kann. Es gab ja auch Spekulationen, dass es Mord gewesen sein könnte.

Politischer Mord?

Böthig: Es ist nachweisbar, dass die Gestapo wusste, wo Tucholsky steckte. Dabei hat er intensiv versucht, das zu verheimlichen. Er hat seine gesamte Post über eine Deckadresse in der Schweiz abgewickelt. Aber sie wussten bescheid. Er stand ganz oben auf der Liste derer, die sie gern beseitigt hätten.

Was überwog bei Tucholskys Freitod: das existenzielle, physische oder politische Motiv?

Böthig: Das existenzielle Motiv wird den Ausschlag gegeben haben. Aber er war auch krank, hat sehr gelitten. Hinzu kam, dass seine ökonomische Situation immer aussichtsloser wurde. Seine Konten waren gesperrt, er hatte keine Einnahmen mehr. Tucholsky hatte sich auch ganz bewusst nicht in den Exil-Kreisen integriert, nichts mehr veröffentlicht. Die politische Verzweiflung darf man nicht unterschätzen. Die Jahre 1933 bis 1935 waren Erfolgsjahre für die Nazis, sie hatten keine Gegner in Europa. Tucholsky sah sehr deutlich, dass seine Epoche vorbei war.

Was war dieser Tucholsky eigentlich für ein Mensch?

Böthig: Eine Künstlernatur. Hochsensibel, hochbegabt. Zugleich ein Mann, der ein sehr starkes soziales Engagement besaß. Den interessierten tatsächlich die Menschen. Er wollte verstanden und gelesen werden. Er wollte wirken.

Wo stand er politisch?

Böthig: Er gehörte zu der ganz kleinen Gruppe von Intellektuellen, die an die Möglichkeit einer Demokratie und einer Republik glaubten - und die dafür auch bereit waren zu kämpfen. Mit aller Kraft, allem Geist und allem Esprit.

Obwohl regelmäßig der Vorwurf auftaucht, Tucholsky hätte der Weimarer Republik mehr zuarbeiten statt sie kritisieren sollen.

Böthig: Ja, dieses Argument gibt es immer wieder. Es ist aber eine infame Verkehrung der Tatsachen.

Die DDR tat sich schwer mit Tucholsky. Warum?

Böthig: Weil er ein Skeptiker war, der selbstverständlich auch das Allerheiligste, den Marxismus, kritisierte. Er ließ sich für keine Partei oder Gruppe vereinnahmen. Er vertraute auf seine Urteilskraft.

In Israel wurde er über 45 Jahre nicht verlegt.

Böthig: Das hat mit seiner bitteren und drastischen Anklage gegen die Juden zu tun, denen er vom Exil her vorwirft, dass sie aus Feigheit und Opportunismus 1933 keinen Widerstand geleistet hätten und nicht in Massen ausgewandert sind.

Welche Fragen treibt die Tucholsky-Forschung heute um?

Böthig: Die Frage seiner äußerst komplizierten Beziehung zum Judentum. Kürzlich gab es eine Tagung zum Thema "Tucholsky und die Medien". Er war ja auch Musikkritiker, hat Schallplatten rezensiert, über den Film geschrieben. Man versucht, ihn in der Publizistik der Weimarer Zeit zu verorten.

Welches Buch würden Sie Tucholsky-Einsteigern empfehlen?

Böthig: Ein Buch, das ich sehr mag, ist das 1927 veröffentlichte "Pyrenäenbuch". Das ist ein Reisebuch in der Tradition von Heine, ein sehr schöner Essay über Frankreich und eine sehr ernste Auseinandersetzung mit dem Katholizismus, der Heiligenverehrung und dem Wunderglauben. Aber auch eine wunderbare Lektüre.

Welchen Tucholsky vermissen Sie in der Gegenwart?

Böthig: Den zupackenden Satiriker, der Probleme tatsächlich so zuspitzt, dass es wehtut. Davon gibt es zu wenige. Wiglaf Droste wäre da zu nennen. Aber wahrscheinlich fehlt heute für diese Art von Literatur die geistige Kultur.

Siehe URL.: http://www.mz-web.de/artikel?id=1134400739699
erstellt von Christian Eger am 20.12.05, 19:51h und aktualisiert 20.12.05, 20:06h

Anmerkungen

[1Wie es KT gelingt, seine eigene Lebenspraxis zum Gegenstand seines ersten "Erfolgsromas" zum machen, darüber berichtete heute Maike Albath um 9:05 Uhr im Deutschlandfunk in der Reihe: "Wir erinnern" unter dem Titel: Markenzeichen: Respektlosigkeit .

[2Dazu Krajewski: [...] In diesem Blatt wurde der Pole als faul, dreckig, geistig minderbemittelt und dem Alkohol stark zuneigend dargestellt. Die gegenseitigen Attacken und die schonungslose Agitation führten zu verbrecherischen Taten und Tucholsky bezeichnete sein Mitwirken nachträglich als "Sündenfall".


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