Sind "wir" schon wieder Weltmeister?

VON Dr. Wolf SiegertZUM Freitag Letzte Bearbeitung: 9. Januar 2006 um 12 Uhr 04 Minuten

 

Der Wecker klingelt um 4 Uhr 30. Es ist Zeit aufzustehen, um noch rechtzeitig den Sprinter-Zug von Berlin-Zoo nach Frankfurt/Main zu erreichen. Während der Morgentoilette läuft im INFOradio [1] die Medienkritik von Thomas Hollmann unter dem Titel: „Wir werden Weltmeister...“. Sein Thema: die schon jetzt penetrante bis peinliche Präsenz des Themas Fussball-Weltmeisterschaft auf allen Sendern, in den Zeitungen und in der Werbung sowieso.

Kaufen Sie Ihre Dübel auch im Baumarkt, vor dessen Schiebetüren schwarz-rot-goldene Schals im Wind wehen? Ihr Handy haben Sie hoffentlich in dem Elektro-Kaufhaus erstanden, das den Titel holen wird. Das Handy brauchen Sie, um ihre Kollegen anzurufen. Wenn Sie neben Ballack stehen in der Nationalmannschaftskette unseres Telekommunikations-Riesen zusammen mit Millionen Nationalmannschaftstrikot-Trägern. Das Trikot gibt es gratis zum Flatrate-Vertrag dazu. Ja, ist denn schon Weltmeisterschaft?

So gut wie - 154 Tage müssen wir nur noch warten. Das ZDF zählt den WM-Countdown seit September in Sondersendungen runter. In zwei Wochen lädt Johannes B. Kerner zur großen WM-Gala. Warum? Weil es dann nur noch 141 Tage bis zum Anpfiff sind. Und weil die von den Medien dasselbe fürchten wie die von den Media-Märkten - den Anpfiff zu verpassen.

Die WM verheißt Dauer-Quote und Rekord-Umsätze. Alles eine Image-Frage. Wer WM-Sender ist und WM-Baumarkt - der hat gewonnen. So glauben die Fernseh- und Reklamemenschen.
Nicht auszumalen, was noch alles schwarz-rot-gold wird. Wenn es 100 Tage sind, 90, 80, 70. Die Bahn, das Bier, unsere Brötchen - alles kugelrund und deutsch-gefärbt. Günter Netzer liest die Tagesschau, der Sparkassen-Filialleiter trägt eine Kapitäns-Binde und die Fleisch-Verkäuferin schießt uns die Grillwürste mit Stollenschuhen zu.

So wird es werden. Und noch schlimmer. Und keiner weiß, welche Nebenwirkungen die Überdosis WM-Werbung hat. Werden wir farbenblind? Lassen wir uns auswechseln? Dübeln wir den neuen Plasma-Flachbildschirm falsch rum an die Wand?

Das wäre schade. Wir wollen doch sehen, wie wir Weltmeister werden. Oder sind wir es schon? [2]

Im Zug wird nochmals die erste Berliner Zeitung des Neuen Jahres aufgeschlagen, Nummer 1, 62. Jahrgang: eine ganze Abteilung ist dem Rückblick auf das Jahr 2005 gewidmet - und eine weitere allein der Fussball-WM 2006.

Auf Seite 16 dieser Sonderbeilage scheibt Andreas Lesch von der „Herrschaft des Horrors [3], von der unbegrenzten Ausdehnung des Themas Fussball über Land und Leute. „Niemand kann dem Wahnsinn entkommen, der längst begonnen hat [...] Es bringt nichts, sich von Stadien fern zu halten [...] Der Horror kommt trotzdem. Er kriegt uns alle“.

Quod erat demonstrandum? Schon beim Besteigen des Zuges schaut einem von der Titelseite des überall ausliegenden DB-„mobil“ MAGAZINs DER BAHN Nr. 01|06 - als „Offizieller Mobilitäts- und Logistikdienstleister“ - "Der Mann des Jahres" [4] an: Jürgen Klinsmann.

Und als die Zeitungen zur Wahl ausgeteilt werden findet sich in der Financial Times an diesem Morgen eine
" CASUAL FRIDAY " Kolumne von Ines Zöttl auf der Seite 2. Unter dem Titel: "Ein deutsches Krankheitsbild" [5] spricht sie von einer Identitätskrise des Landes und fragt: „Gehen wir planmässig unter, oder erringen wir diesmal den Endsieg?“ - was, so ist zum Guten der Autorin zu hoffen, ja wohl nur auf die Fussball-WM gemünzt sein kann. Ihre Prognose: „Im Sommer wird die Welt zu Freunden kommen und geschlagen gehen“. Im Sinne von Frau Dr. Merkels Neujahrs-Motto versucht sie gar herauszufinden, was in uns steckt, wird Deutschland mit einer „Borderline-Persönlichkeit“ assoziiert und der Bundestrainer Klinsmann mit Narziss.

Mit solcher Lektüre schliesslich in Frankfurt - dieses Mal mit nur 10 Minuten Verspätung - angekommen, klingt einem das Echo des morgendlichen INFOradio-Kommentars noch gut in den Ohren. Jetzt nur noch auf das Gleis 103 und 2 Stationen mit der S9 bis zur inzwischen in „Stadion“ umgetauften Station „Sportfeld“ und dann noch ein kurzer Weg durch den Wald. In den Sälen 2 und 3 der DFB-Zentrale sind schon die Futtertröge mit den neuen und alten Informationen für den sogenannten Neujahrsempfang des Organisationskomitees der FIFA WM bereitgestellt: genau in jenen Räumen, in denen der Vereins-Vorstand am Freitag, den 20. November 1992 einen Beschluss von damals fast unglaublicher Tragweite gefasst hatte.

Hier sieht man die Dinge naturgemäss anders, sieht sich in einer gesamtpolitischen Verantwortung, weiss um die Wahrung einer Chancen, die "so in den nächsten 50 Jahren nicht noch einmal wiederkommen" werden und denkt gerne auch einmal zurück und erzählt: wie alles begann!

Wolfgang Niersbach, der auf dieser Pressekonferenz am häufigsten zitierte Mann, holt ein geradezu historisches Dokument aus der Tasche: die 1992 verfasste zehnzeilige Presseerklärung in der der Beschluss des DFB-Vorstandes vom Freitag, den 20. November bekannt gegeben wird, sich um die Ausrichtung der Fussball-Weltmeisterschaft in Deutschland zu bemühen. „DFB bewirbt sich um WM 2006“.

Niersbach erinnert sich: damals hätten er und sein Kollege Horst R. Schmidt all ihren Mut zusammengenommen um zum Vorstand zu gehen und das Projekt vorzutragen. „So einfach ist das damals gegangen“ erinnert er sich. „Wir sind darauf gekommen, weil Frankreich gerade den Zuschlag für 1998 bekommen hatte und wir wussten, dass wir 2002 keine Chance hatten und dass Europa nur alle 8 Jahre dran ist.“ Und das Wunder geschah: Horst R. Schmidt und er selber sind mit ihrem Antrag durchgekommen.

"Aber nicht etwa, dass man gleich im nächsten Moment Meldung gemacht habe. Erst drei Tage später ging ein DFB-Pressedienst raus, geschrieben mit einer IBM Kugelkopfmaschine - das war damals das fortschrittlichste Instrument, das es in diesem Hause gab - und da stand dann drin: Der DFB bewirbt sich um die WM. Links oben im Kopf war noch die Telefonnummer des DFB aufgedruckt und da drunter stand TELEX. Wir waren damals schon über Telex zu erreichen..."

Es gelten die Regeln des Urheberrechts all rights reserved

"Mittlerweile haben wir Internet, E-Mail, Blackberry: das sogar der geschäftsführende Präsident mit einer Fingerfertigkeit beherrscht, die damals als utopisch galt. Aber dieses kleine Beispiel im Bereich der Medien mit dem Telex zeigt: wir kommunizieren heute unglaublich schnell, unglaublich offen und unglaublich transparent miteinander. Aber eines ist geblieben: das Ereignis; der Sport. Das Ereignis, um das sich alles dreht. Und das muss auch so sein."

Am Nachmittag um 16:47 Uhr war die zusammenfassende Presseverlautbarung über das Einläuten des WM-Jahres 2006 im Netz samt Fotos veröffentlicht - und dieser Text alsbald nach dem Eintreffen des Zuges in Berlin. Herr Klinsmann - einst ein engagierter Verfechter des Einsatzes der neuen I&K-Technologien im Rahmen der D21-Initiative - hat es ja dem Leser des "mobil"-Heftes auf einem Foto schon vorgemacht:

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Die Unterzeile auf der Seite 45 des Heftes mobil 01|2006 beginnt mit der Frage: "Demnächst online?" und führt den Satz fort mit "Auch Jürgen Klinsmann nutzt den Zug als Büro". Dazu korrespondierend der Link zu einer PDF-Datei mit vergleichbaren Fotos des Autor vor und "an seinem mobilen Arbeitsplatz" aus dem Jahr 2003; erschienen unter dem Titel: Urlaub in Digitalien .

Anmerkungen

[1Ein zuverlässiger Link auf die Seite: "http://www.inforadio.de/radiotoread_print.do?dataid=96596" des Rundfunks Berlin Brandenburg konnte nicht etabliert werden, der Text wird daher nachfolgend als Zitat übernommen

[2Es ist aber möglich, den Text über einen realPlayer-Link nachzuhören.

[3Noch immer soll es Menschen geben, die glauben, der Fußball sei begrenzt: von den Linien an der Seite des Feldes. Da sei Schluss, da höre er auf. Doch so einfach ist das nicht. Nun, da in Deutschland das Jahr der Weltmeisterschaft beginnt, breitet der Fußball sich immer weiter aus. Er offenbart, dass er Risiken und Nebenwirkungen mit sich bringt, die jeden bedrohen. Niemand kann dem Wahnsinn entkommen, der längst begonnen hat und bis zum Eröffnungsspiel weiter zunehmen wird, von Tag zu Tag.

Es bringt nichts, sich von Stadien fern zu halten. Es hilft wenig, Fußballübertragungen im Fernsehen zu meiden. Der Horror kommt trotzdem. Er kriegt uns alle. Er greift, in Form des grenzdebilen WM-Maskottchens, den Verstand der Menschen an. Er will ihnen weismachen, dass so ein Turnier unendlich viele Arbeitsplätze bringt - und nicht nur Tore und Tränen. Der Horror beleidigt die Augen der Menschen mit Plakaten und Logos, die niemand schön findet außer ihren Designern. Er vernebelt ihnen die Sinne mit dem Wein zum Turnier. Er gibt ihnen die Hoffnung, dass sie alkoholisch betäubt die Qual der sommerlichen Fernsehkommentare besser ertragen können - doch diese Hoffnung täuscht.

Bleibt die Frage: Was tun? Heißt die Lösung: a) sich im Haus verbarrikadieren und den Kontakt zur Außenwelt abbrechen, bis alles überstanden ist; b) in ein fernes Land verreisen - oder c) gleich ganz auswandern? Alles falsch. So geht das nicht. Viel zu lange sind die Deutschen als Weltmeister im Jammern beschimpft worden und als Könige der schlechten Laune. Jetzt können sie allen zeigen, wie falsch das ist. Sie können beweisen, dass sie tapfer sind und alle Zumutungen durchstehen - ohne Heulen und Zähneknirschen. Das Gute ist doch: Die Nebenwirkungen der WM werden nachlassen, nicht bald, aber bald nach dem Turnier. Das gibt Hoffnung; das wird besonders an jenen Tagen helfen, an denen man glaubt, dass der Horror endgültig die Herrschaft übernimmt. Vielleicht wird 2006 am Ende tatsächlich ein frohes, neues Jahr. Wir müssen nur alle fest daran glauben.

[4mit der dicksten Titelunterschrift von allen und dem Wort "Mann" um nochmals 2 Punkte verstärkt...

[5Es stimmt etwas nicht im Staate Deutschland, und das liegt nicht daran, dass wir faul sind. Die Deutschen klotzen ran wie in den 50ern, alle haben begriffen, dass Unternehmen unterhalb einer Vorsteuerrendite von 25 Prozent existenziell bedroht sind.

Unser Problem ist mental. 60 Jahre nach dem Neustart steckt IchDeutschland in einer Midlife-, ja Identitätskrise. Gehen wir planmäßig unter, oder erringen wir diesmal den Endsieg? Optimismus breitet sich aus, wie wir es eigentlich von der Vogelgrippe erwartet hatten. Im Sommer wird die Welt zu Freunden kommen und geschlagen gehen! Jeder hat eine Idee, wie unsere Jungs im Feld gewinnen werden. Arbeite mit! Plane mit! Regiere mit! hat unsere Bundeskanzlerin zu Neujahr gesagt. So ähnlich jedenfalls.

Sie hat uns auch ermuntert, "herauszufinden, was in uns steckt". Wir würden überrascht sein, glaubt Merkel. Ich teile diese Befürchtung. Bestimmt sind auch Ihnen einige Symptome bereits aufgefallen.
 Tinnitus (ständig piepst es Aufschwung in Ihrem Ohr, aber Ihre Chefs wollen davon bei Lohngesprächen nichts gehört haben)
 Bruxismus oder Zähneknirschen, Ausdruck häufiger Angst (vor Chinesen) und unbewusste Aggressivität (gegen Chinesen)
 Zwangsrituale in Verbindung mit krankhaften - Schuldgefühlen (Pünktlichkeit)
 Insomnie ("Denk ich an Deutschland in der Nacht")
 Rentenneurose, die "spezifische Form im Langzeitverlauf einer komplexen mittel- bis schweren psychischen Störung"
 Adipositas (Fettsucht)
 Narzissmus (Klinsmann)
Seien wir realistisch: Deutschland ist eine Borderline-Persönlichkeit. Oder ein Hypochonder.


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