Das Private: öffentlich?

VON Dr. Wolf SiegertZUM Samstag Letzte Bearbeitung: 6. Mai 2007 um 21 Uhr 25 Minuten

 

Bis zu dem Zeitpunkt, als dieser nachfolgend zitierte Brief im Deutschlandradio veröffentlich wurde, hätte der Text dieses Tages ganz anderers ausgesehen.

Da wäre davon die Rede gewesen, wenn das Private - in diesem Falle eine unvorhergesehene Erkrankung - das ganze Leben auseinanderbrechen und alles bis dato Getane in einem neuen Licht erscheinen lässt. Es wären Sätze geschrieben worden, die von der bisherigen Zurückhaltung in Bezug auf das Private in diesem "DaybyDay" abgewichen wären. Es hätte eine Passage gegeben, warum fast unmenschliche Anstrengungen unternommen worden sind, um einen Gesprächspartner zu finden, der sich dann stundenlang ob seiner Tagsaktualtität glaubt zunächst einmal anderen Personen zuwenden zu sollen. Und es wäre davon die Rede gewesen, wie es an diesem Ort des Warten zu der Begegnung mit einem Universitätprofessor kommt, der gerade in den USA, in San Francisco, seinen ersten Mitarbeiter besucht hat, der dort inzwischen zu einem "richtigen" Amerikaner geworden ist und dessen Lebenszeit wegen eines Gehirntumors nur noch wenige Monate betragen wird.

Kurz bevor all diese Umstände nach reiflicher Überlegung erzählt werden sollen, kommte es beim Anschalten des Rechners zur Wiederholung und medialen Aufarbeitung eines Briefes an einen Freund, der an diesem Sonnabend-Morgen beim Deutschlandradio Kulur über den Sender gegangen ist. Zu fast noch nachtschlafender Zeit - jedenfalls für eine Sonnabend.

Da macht wirklich jemand, der sicherlich viele Meriten in seinem Leben auf sich hat vereinigen können, nicht davor halt, einen seiner Briefe an seinen Freund Jacques Chirac auf diesem Wege öffentlich zu machen. In Wort und Schrift.

Angesichts eines solchen Fauxpas’ - sei er nun der Eitelkeit geschuldet oder der Einredung eines Redakteurs dieses Senders - führt dieser "unerhörte" Beitrag, den eigenen in eigener Sache auch gedanklich wieder völlig vom Schirm zu nehmen.

Nachdem in der Nachmittagssendung des Deutschlandfunks in der Sendung "Computer und Kommunikation" in der "Log-Buch-Rubrik" erfreulicherweise erklärt wurde, dass man an diesem Sendeplatz auch in Zukunft sicherlich nie mit einem Blog in Erscheinung treten würde, muss man sich wirklich Gedanken machen, warum sich so gescheite Männer wie dieser Herr Gauger es nicht lassen kann, seine persönlichen Befindlichkeiten nicht nur seinem Freund mitzuteilen, sondern gleich jedem und jeder, die oder der beim Hören oder Lesen darauf stösst.

Wäre dieser Brief nicht an den ach so bekannten und nun alsbald abgeschriebenen Freund geschrieben worden, er wäre - so die These - wohl nicht und schon gar nicht an so prominenter Stelle veröffentlich worden: samt Intro auf der Internet-Seite Eins des Senders und samt multimedialer Gesamtausgabe in Wort und Schrift.

Brief an einen französischen Freund
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Wäre einem derjenigen Freunde aus dem öffentlichen Leben bekanntgeworden, dass Sie in eigenen Texten dazu missbraucht worden wären, um die eigene Person angesichts ihrer öffentlichen Bedeutung zu nutzen um selber auch für einen Moment eine öffentliche Person zu werden - es hatte danach auf jeden Falle eine sehr ernsthafte Aussprache gegeben. Und wenn es danach nicht zu einem Bruch der Beziehung gekommen wäre, dann eben nur deswegen, weil man bis dahin wirklich eine gute Freundschaft zu pflegen in der Lage war.

Aber jetzt ist auch klar, warum die Bewirtungskosten für die nächste gemeinsame Begegnung des Autors mit seinem Freund auf seine Rechnung werden gehen müssen.

WS.

Mein lieber Jacques, der 6. Mai rückt heran. Und diese große Wahl ist mir Anlass, an Dich zu denken, an Dich und an Christiane. Aber nichts, gar nichts heute in diesem Brief von Zarko und Ségo. Ihr werdet schon richtig wählen.

Vielleicht - es würde mich, wie ich Euch kenne, nicht wundern - wählt ihr gar verschieden. Weißt Du. Ich bin kürzlich fast erschrocken, als ich nachrechnete und feststellte (ist Dir das auch klar?), dass es tatsächlich bald sechzig Jahre sein werden, dass wir uns kennen. Ich war im Jahr 1949 vierzehn. Da kam ich mit einem Stipendium der französischen Regierung an eine rein französische Schule in Tübingen.

Dort lernte ich, schon vor Dir übrigens, Christiane kennen. Ein Jahr später ging es dann an die nächstfolgende Schule an den Bodensee, nach Konstanz. Und da traf ich Dich! Man muss ja die Franzosen loben, denn hier haben sie in ihrer "Zone" etwas gemacht, das weder die Amerikaner noch die Engländer noch gar die Russen in den ihren gemacht haben. Die französische Regierung beschloss (das muss schon 1947, also gleich nach Kriegsende, gewesen sein), dass in jede Klasse jeder für die Kinder ihrer Truppen in Deutschland eingerichteten Schulen zumindest ein deutscher Schüler aufgenommen werden soll, und zwar mit einem Stipendium.

Das war eine ziemlich kühne Entscheidung, denn damals, sehr verständlicherweise, wollten die allermeisten Franzosen mit den Deutschen nichts mehr zu tun haben. Aber in Paris, in der Regierung, dachte man vorausschauend anders. Und man hatte keine Bedenken, Deutsche so nahe an sich heranzulassen, noch dazu in einer Internatsschule. Es waren vor allem Leute, die in der "Résistance" gewesen waren, die diese Bedenken nicht hatten: Die Fehler von 1918, nach dem Ersten Weltkrieg, so meinten sie, sollten jetzt auf keinen Fall wiederholt werden.

Diese gute und richtige Politik brachte uns, Dich und mich, zusammen, und wir machten, neben einigem anderem, gemeinsam das Abitur, das "baccalauréat". Uns beiden war sehr klar, sehr früh, dass die definitive Verständigung zwischen Frankreich und Deutschland für unsere beiden Länder wichtig ist - zentral. Zwar haben wir damals unter uns nicht davon geredet. Ich erinnere mich an kein solches Gespräch. Aber es war uns klar. Und bald, nur wenige Jahre später, wussten wir auch, dass diese Verständigung ebenso wichtig sein würde für das werdende Europa. Übrigens sprach man damals ja nur von "Verständigung" oder auch, pathetischer, von "Aussöhnung" - keineswegs schon von "Freundschaft". Das kam erst später. Es brauchte Zeit. Für uns beide war sie ja schon deshalb nicht so wichtig, weil wir persönlich Freunde waren. Aber nun ist diese politische Freundschaft seit langem da. Und sie geht über das Politische deutlich hinaus. Merkwürdigerweise (ich jedenfalls wundere mich darüber) sind, so sagen die Umfragen, unter allen Touristen in Frankreich die deutschen am beliebtesten... Ist diese Freundschaft, durch viele, viele Städtepartnerschaften konkretisiert und fühlbar gemacht, aber wirklich unumkehrbar?

Einen wirklich ernsten Konflikt kann man sich heute im Politischen in der Tat schon kaum noch vorstellen. Eine Gefahr ist da aber doch. Sie liegt einfach in der Gewöhnung. Man hält diese Freundschaft für so selbstverständlich, dass man in Gefahr steht, nachlässig zu werden. Und vor allem: die Jungen (und man kann es ihnen gar nicht übel nehmen, denn sie sind halt jung und waren nicht dabei), die Jungen finden diese Freundschaft schon vor. Ihnen scheint sie ganz normal, so dass sie sie zuweilen schon irritiert. Sie haben ja überhaupt die Tendenz, sie gehört zu diesem Alter, das Vorgefundene für normal und also nicht besonders positiv zu halten. Ein jüngerer Journalist schrieb mir kürzlich, nachdem ich ihn wegen eines unfairen Frankreichartikels kritisiert hatte, er habe diese Frankophilie, diese Frankreichschwärmerei, die auch bei seinen Eltern durchaus geherrscht habe, nun wirklich satt. Nun, wir gehören, Du und ich, zur Generation seiner Eltern... Also müssen wir den Jungen immer wieder klarmachen, wie schwer diese Freundschaft errungen wurde. Und dass sie gepflegt werden muss. Daran denke ich auch bei dieser Wahl. Nun, wir treffen uns ja bald. Dann werden wir, neben vielem anderen, und bei einem guten Essen (diesmal lade ich ein), auch über die Wahl und ihre Folgen sprechen. Grüß bitte Christiane herzlich und sei selbst, mein lieber Jacques, herzlich gegrüßt von mir.

Und das schreibt die D-Radio-Redaktion über den Urheber dieser Zeilen: Hans-Martin Gauger, Jahrgang 1935, war bis 2000 Inhaber eines Lehrstuhls für Romanistik an der Universität Freiburg. 1981/82 war er Stipendiat am Wissenschaftskolleg in Berlin. Er ist Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, deren Vizepräsident er war. Gauger war Prorektor der Uni Freiburg und Vorstandsvorsitzender des Frankreich-Zentrums. In Freudenstadt, also im württembergischen Teil des Schwarzwalds geboren, sagt er über Dichter, dass sie noch komplizierter als Professoren seien.


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