Die Vermessung der Welt

VON Dr. Wolf SiegertZUM Montag Letzte Bearbeitung: 15. Januar 2015 um 21 Uhr 15 Minuten

 

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Heute geht es um dasjenige Lieblings-Medium, das in den letzten Jahren in "DaybyDay" mehr als nur "zu kurz" gekommen, sondern mehr oder weniger überhaupt nicht vorgekommen ist. Deshalb gab es für die Urlaubszeit eine besonders lange Liste von Buchempfehlungen, die für diese Tage vorlag.
Die Entscheidung für das nun an dieser Stelle Besprochene war absolut gut. Schade nur, dass nicht auch noch ein Materialienband gleich mit dabeigelegen hat.

I.

„ Kein Zweifel, sagte der Graf. […] Übrigens habe er große Bewunderung für die Vermessungsarbeit. Es sei eine wunderliche Beschäftigung, monatelang mit Instrumenten herumzuziehen.| Nur wenn er es in Deutschland tue. Wer das gleiche in der Kordilleren unternehme, werde als Entdecker gefeiert.“

Wer nach einer Zusammenfassung des Romans Die Vermessung der Welt“ von Daniel Kehlmann fragt, der hat sie mit diesem Zitat gefunden. Es ein Teil eines Dialoges im Garten des Grafen Namens von der Ohe zu Ohe zwischen eben diesem und dem von ihm so apostrophierten Herrn Geodäten Professor Gauß „der größte Mathematiker des Landes“. So wird er vom Autor selbst gleich zu Beginn des Buches vorgestellt. Später dann lässt er „seinen“ Gauß von sich selbst als dem Astronomen und Mathematiker sprechen.

Mit der Beschreibung einer seiner ganz wenigen Reisen beginnt dieses Buch: mit der Kutsche auf nach Berlin. Mit der Ausreise seines Sohnes Eugen per Schiff über England und Teneriffa bis nach Amerika endet es. Beide Reisen sind unabwendbar. Gauß wird von der politischen Prominenz nach Berlin zitiert und dann zunächst nicht nach Preußen eingelassen, da er keinen Pass vorweisen kann. Und Eugen schließlich muss diese Reise antreten, um auf diesem Wege den Häschern der deutschen Geheimpolizei – auf deren eigene unabweisbare Empfehlung hin – zu entkommen.

Auf dem Weg in das unbekannte Land wird er über einen Schlag fast reich. Doch dann verliert er sein im Spiel – durch die Anwendung der von Giordano Bruno entwickelten Lehren seines Vaters – auf der Durchreise gewonnenes Vermögen noch in der gleichen Nacht. Er nimmt eine Frau zu sich in seine Herberge, die von sich behauptet, keine Prostituierte zu sein.
Doch am Morgen nach dem Liebesspiel ist sie schon mit all seinem Geld von dannen. Und, obwohl sie „seinen ganzen Gewinn mitgenommen hatte, brachte er es nicht fertig, sich zu ärgern. Wie leicht alles wurde, wenn man aufbrach.“

Keine zwei Kapitel zuvor hatte der Autor den alten Vater Gauß im Verein mit seiner zweiten Hauptfigur, Alexander Humboldt das folgenden Resümee ziehen lassen: „Sein Leben liege hinter ihm, sagte Gauß. […] Die letzten fünfzehn Jahre habe er Hügel vermessen. Er blieb stehen und sah in den Nachthimmel. Alles in allem könne er nicht erklären, weshalb er sich so leicht fühle. | Er könne es auch nicht, sagte Humboldt, aber ihm gehe es ähnlich.“

Und dann lässt Kehlmann seine beiden Protagonisten seines Buches weiter träumen: Humboldt von Indien und China, das er vielleicht noch auf seiner Russlandreise werde erreichen können. Und Gauß von einem neuen Mitarbeiter und der Experimentalphysik. „Darüber müsse man nachdenken“.

II

Dieses Buch berichtet von dem ständigen Wechsel von Gewinn und Verlust. Immer wieder erleben sich die Menschen in einem „Wie-Gewonnen-So-Zerronnen“-Szenario. Und sogleich erläutert dieser Roman, wie es möglich sein kann, dass der Kampf um die Bewältigung des Lebens durch die von ihm geschilderten Menschen zu einer Qualität führen kann, die sich jenseits ihrer eigenen Existenz fortschreiben lässt: weil die Entdeckungen von Maß und Raum von ihnen selbst aufgeschrieben – und gelegentlich auch diktiert - werden. Und zwar nicht als Prosa, sondern als Zahlen, als Tabellen, Graphen und Karten.

Was diese beiden Männer alles nach deren Ermessen zu Stande gebracht haben, vermag der Autor dennoch auch ohne all diese Zahlen- und Datenstränge aufzeigen. Dass es ihm gelingt, diese Kunstfertigkeit so weit voranzubringen, dass ihm die Sprache Spiel- und Spezialwerkzeug ist, mag vielleicht auch daran liegen, dass er sich aus der Realität des Bundes-Deutschlands entfernt und auf nach Österreich gemacht hat, so wie einst sein Vorbild Humboldt, der sich ein Jahr lang in Salzburg auf die die Aneignung der Welt durch Zahl und Strahl, durch Winkelmass und Chronometer vorbreitet hatte. „Die Einheimischen“, so der Autor, „hielten ihn für verrückt“, während er, Humboldt, „das Zerlegen und Zusammenbauen jedes Instruments“ solange übte „bis er es blind beherrschte“.

Der Forscher als Maschinen-Mensch? Das Thema des „L’homme machine“ kommt ja im Roman auch ausdrücklich als zeithistorische Referenz zu Wort: Nein, so lernen wir, der Forscher ist keine Maschine, er handelt als Mensch in einem ihm gesetzten und durch Zahl und Maß bezwungenen Zeit-Raum. Und dann hinterlässt er in seinen niedergeschriebenen Daten seine Messungen als referenzierbare und auf diese reduzierte Auskünfte, die auch jenseits der eigenen Existenz ohne Referenz auf die Person des Urhebers ihre Gültigkeit behalten.

Der Forscher stellt sich im Selbstversuch der ihm unbekannten Natur, bis an die Grenze der Nicht-Existenz als Individuum. Ein Wahrsager, an dessen Rede Humboldt keine Interesse hat, hat Interesse an der Hand Humboldts. Die Neugierde ist in ihr Gegenteil verkehrt. Der Wahr-Sager will wissen, was ihm diese Hand zu sagen hat und nicht jenem, dem sie gehört. Nicht Humbldt hat Zweifel an seiner Zukunft, sonder der Wahrsager bekommt welche, wenn er über seine eigene Zukunft nachzudenken beginnt. Denn was er schliesslich in dessen Hand zu sehen bekommt ist: „Nichts. Der Wahrsager ließ Humboldts Hand los. Es tue ihm leid, er wolle auch kein Geld. Er habe versagt. […] Da sei nichts. Keine Vergangenheit, keine Gegenwart oder Zukunft. Da sei gewissermaßen keiner zu sehen. Der Wahrsager blickte aufmerksam in Humboldts Gesicht. Niemand!“

III.

Eben diesem Wagnis stellt sich auch der Autor. Einem „Niemand“ jenes Geheimnis zu entreißen, das sich jenseits all seiner Werke und Gewerke verborgen hält. Ihm geht es um mehr als den Menschen Humboldt. Ihm geht es um Menschliche in Humboldt. Er enttarnt ihn, bis hin zu seiner Vorliebe zur Pädophilie, und macht ihn eben nicht zu jenem Übermenschen, Helden und Gegenstand der Verehrung, als den er ihn immer wieder beschreibt.

Diese Darstellungsweise macht es ihm möglich, all die Respektabilitäten in diesem Roman auftreten zu lassen, ohne dass deren Abbild wirklich Ruhm oder Schaden angetan werden würde: Kaiser und Könige, ein Graf oder der Präsident Amerikas, sie alle bleiben – auch wenn Sie in ihrer jeweiligen Wichtigkeit durchaus glaubwürdig charakterisiert werden – letztendlich Randfiguren.

Die Aufmerksamkeit des Autors gilt vielmehr vor allem jenen Menschen, die Humboldt über sein ganzes Leben lang begleitet haben, also nicht nur seinem Bruder, sondern vor allem seinen Assistenten (der sich gerne lieber als Mitarbeiter dargestellt wissen möchte), also nicht nur die die reisenden Reporter Namens Duprés (mit seinem Buch: „Humboldt – Grand voyageur“) oder Wilson (mit seinem Buch „ Scientist and Traveller: My Journeys with Count Humboldt in Central America“), sondern vor allem sein alter ego Gauß.

Außer ihm – und gelegentlich selbst er – sind all diese Menschen wie Trabanten um die Figur dieses sich selbst stets bewegenden Humboldt angeordnet und ihrerseits in Bewegung gehalten. Und so kann einen das Lesen ganz schön schwindelig machen. Und das ist – so hat es den Anschein – durchaus beabsichtigt. Dass der Leser trotz des in Zeit und Raum verschachtelten Aufbaus der Kapitel die Übersicht nicht verliert ist nicht nur der innerlich stringent fortgeführten Erzählweisen entlang der beiden Haupt-Personen zu verdanken, sondern vor allem dem Autor selbst. Denn: Er ist das dritte Genie in diesem Buch.

IV.

Wenn der Autor Humboldt und seinem Begleiter Bonpland [1] die beiden [2] auf ihrem Weg hinauf auf den Chimborazo-Berg begleitet, bis sie heil über die Eisbrücke gekommen sind, dann verbleibt er als der „Dritte Mann“ an ihrer Seite. Als die „Dritte Person“ die in den verschiedensten Formen und Gestalten immer wieder auftaucht: So als „dunkel gekleideter Herr, der mit traurigem Gesicht an ihrer Seite stapfte“ und der sich alsbald danach „in eine geometrische Figur verwandelte, eine Art schwach pulsierende Bienenwabe“. Während der Forscher mit seinem Assistenten – oder Mitarbeiter – die lebensgefährlichsten Abendteuer besteht, so wie ihr Weg auf den Berggipfel, auf dem es irgendwann zwischen ihnen „und dem Abgrund nur noch Wasserkristalle waren“, glaubt dieser, eigentlich aus drei Personen zu bestehen: Einem, der ging, einem, der dem Gehenden zusah, und einem, der alles unablässig in einer niemandem verständlichen Sprache kommentiert.“

Das Genie des Autors besteht darin, den Leser nicht nur zwischen der Scylla des Schweigens und der Charybdis mit ihrer niemanden verständlichen Sprache durch die Untiefen einer schon vergessenen und doch noch gegenwärtigen Zeit zu lotsen, sondern er macht sich an, gleich einen ganzen Augiasstall an historisierenden Unsinn über all die sogenannten „Grossen Deutschen“ auszumisten, in dem er sie alle - Wieland, Herder, selbst Schiller und die alten Römer in Form von Gipsabgüssen noch gleich dazu – wie in einer Karikatur in die erste Reihe von kontemplativen Betrachtern setzt und Goethe erklären lässt: dass der von ihnen nun verabschiedete junge Humboldt „auch überm Meer“ immer noch ihr Botschafter bleiben werde.

V.

Viele Kapitel später, besteigen Humboldt und sein Gefährte – immer noch von einer „Bonpland-Humbold-Reise“ träumend – mit großer Gefolgschaft den Vulkan Cotopaxi. Und dieses Mal werden sie nicht durch eine Felsspalte daran gehindert, den Berg bis zu seinem Gipfelpunkt zu besteigen. Dieses Mal liegt sein Gipfelpunkt inmitten eines Kraters. Und um diesen zu „besteigen“ lässt sich Humboldt in eben diesen Krater abseilen. Und bei diesem Abstieg in das Zentrum der ins Innere gekehrten Spitze somit findet er die Wahrheit. Und diese ist eben nicht jener „Neptunismus“, an den all diese Berühmtheiten aus Weimar ihn glauben machen wollten: „Unter der Erde brenne kein Feuer. Das Innere der Natur sei nicht die kochende Lava. Nur verdorbene Geister könnten auf solch abstoßende Gedanken verfallen. | Humboldt versprach, sich die Vulkane anzuschauen.“ Kehlmann schreibt: „ Als man Humboldt wieder heraufzog, war er grün angelaufen, hustete erbärmlich, und seine Kleidung war angesengt. Der Neptunismus, rief er blinzelnd, sei mit diesem Tag zu Grabe getragen.“

Womit wir gelernt haben, dass das Wahre, Schöne und Gute oft meilenweit von der Wahrheit entfernt wohnt. Aus dem Botschafter ist ein Mann mit einer eigenen Botschaft geworden. Selbst auf die Gefahr hin, dass der auf dem großen Galadinner zu seinen Ehren nicht nur schlecht zu essen bekommt, sondern auch Gefahr läuft, die Damen der Gesellschaft mit seinen aufgezeichneten Details zu langweilen. Und manchmal, wenn er „schon mehr getrunken, als er es gewöhnt war“, begann er von Fabelwesen zu berichten wie „fliegende Hunde, mehrköpfige Schlangen und äußerst polyglotte Papageien.“.

VI.

Die Phantasie an die Macht. Das anrührende und großartige an diesem Buch ist, dass es die ganz großen und ganz und gar unmöglichen Dinge zu beschreiben nicht ausschließt. Da ist von Seeungeheuern (ein Schlangenleib mit „ zwei ringförmigen Verschlingungen“ und mit „im Fernrohr deutlich erkennbaren Edelsteinaugen“) die Rede und von einer fliegenden Untertasse, einer metallnen Scheibe, die ebenfalls im Fernrohr genau gesichtet werden konnte (so genau, dass sich auf ihr „die gekrümmte Spiegelung des Flusses, ihres Bootes und seiner selbst auf ihrer gleißenden Oberfläche“ wahrgenommen werden konnte).

Und wenn nach einer solchen Schilderung der Autor hinzufügt, dass der Forscher es wohlweislich unterlassen habe, eine solche Beobachtung zu verzeichnen, dann vereinigen sich an diesem Punkt Aber-Witz und ein Witz des Urhebers des Romans, der sich auch den Unmöglichsten Dingen seiner Protagonisten als deren Wahrheiten stellt, indem er noch seine eigene Kategorie des „bislang nicht Dagewesenen“ hinzufügt. Es macht die von ihm geschilderte Personen groß, in dem er sie Großes Sehen lässt, Un-Wesen und Un-Dinge, die nur die menschliche Phantasie entfalten kann und zum Gegenstand der Wahrnehmungen werden, die in diesem Buch ihren Niederschlag finden.

Dadurch, dass diese Dimension des Unglaublichen vom Autor so deutlich und wiederholt eingeführt wird, gelingt es ihm auch das „Unglaubliche“ der Genies, die er beschreibt, glaubwürdig zu machen. Und damit menschlich. Oder, besser gesagt, für uns als Menschen, die nicht über eine solche Kapazität verfügen, in ihrem Leben und Handeln nachvollziehbar macht. Er muss nichts verniedlichen oder verkleinern oder zurechtstutzten, um es uns verständlich werden zu lassen. Sondern durch das Hinzufügen dieser Dimension des Un-Glaublichen macht er uns glauben, dass all das von ihm über seine handelnden Personen Dargestellte letztendlich glaubhaft ist. Ganz ohne kirchlichen Segen, sondern allein durch die so segensreich ausgewählt Wahl des Sujets, der Mimikri der Detailarbeit all der notwendigen Recherchen und einer sprachlichen Fertigkeit, der es bei aller Kunst am Wort gelingt, jegliche Künstlichkeit der Darstellung vergessen zu machen.

VII.

Dieser Text will sich mit niemandem und nichts messen. Ein so guter Text wie der hier reflektierte wird hoffentlich viele qualifizierte Reaktionen auslösen oder schon ausgelöst haben. Die hier entstandenen Zeilen sind geschrieben worden ohne Kenntnis des Umfeldes der bislang öffentlich zugänglichen Rezensionen dieses Buches. Sie sind eine Fingerübung, entstanden im Urlaub, weitab von jeglicher Anbindung an die Heimat, den eigenen Sprachraum, nicht einmal an das Internet. Und es auch das Zugeständnis an den Umstand, dass es schon eine geraume Zeit her ist, dass die Lektüre eines „ganzen Buches“ – von der Fachliteratur mal abgesehen – überhaupt zeitlich als auch von der Aufmerksamkeit her möglich war.

Auch gab es Niemanden der nach diesem Text gefragt hat. Doch: Die Person, von der dieses Buch ausgehändigt wurde mit der Bitte um eine Stellungnahme. Ihr habe der Titel so gut gefallen…

Was vielleicht auch noch mitgeteilt werden sollte, ist ein kurzer Einblick in das Leseverhalten: Das Buch wurde nämlich nicht „von Anfang bis Ende“ gelesen sondern ganz und gar „durcheinander“. Es begann mit der Geschichte, in der eine der Hauptpersonen einen zweiten Heiratsantrag schreibt – der dann zu seinem Erstaunen angenommen wird, und dann mit einer zweiten Hauptpersonen und dessen Begleiter eine kaum glaubliche Flussfahrt unternommen wird. Die Lektüre wurde also nicht einmal zu Beginn eines Kapitels begonnen, sondern „mittendrin“. Und dieses gefledderte Lesen hat großes Vergnügen bereitet, mehr und mehr entdecken zu wollen. Dass sich daraus dann am Ende – aber nicht am Ende des Buches sondern seiner sehr eigenwilligen Entdeckung – auch die Lebensgeschichte zweier berühmter Deutscher entfaltet hat, war eine scheinbar ganz „nebensächliche“ Erfahrung, die vielleicht dazu geführt hat, Anderes, Partikulares, auch Eigenes mehr im Vordergrund gestellt zu haben, als wenn das Buch „in einem Zug“ von vorne bis hinten durchgelesen worden wäre.

WS.

Anmerkungen

[1ein Name übrigens, über den es vielerlei zu spekulieren und vielleicht sogar abzuleiten gäbe von „Bon-à-Part“ bis „Plan-D

[2„Bonpland, sagte Humboldt. Er sah klein, grau und plötzlich alt aus. | Humboldt, sagte Bonpland. | Eine Weile standen sie schweigend nebeneinander.“


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