Berlin? Paris? 7.-14.-21.03.2010

VON Dr. Wolf SiegertZUM Mittwoch Letzte Bearbeitung: 16. Januar 2015 um 00 Uhr 45 Minuten

 

I.

Gibt es eine Welt-Innen-Politik? Diese Frage wurde zunächst gestellt im Gespräch von Hans-Jürgen Heinrichs in der Sendung "Essay und Diskurs" des Deutschlandfunks vom 7. März 2010 mit dem Anthropologen und Kulturwissenschaftler Constantin von Barloewen [1].

Er spricht von der Welt als einem anonymen - "non lieu" - Raum, und behauptet, dass eine Globalisierung nicht ohne Lokalisierung auskommen könne.

Die grossen Herausforderungen dieser Welt, von Aids bis zum Weltwirtschaftsgipfel - könnten nur noch global gelöst werden.

Da aber der Mensch ein "zutiefst historisches Wesen" sei, lebe er heute in einer bedrohlichen Hybris, in der die Technologie aus der Geschichte herausdränge: Der Cyberspace als einer "technologische Form Gottes" habe zur Folge, dass man von einer Maschine eine Erlösung erwarte.

Das Merkmal der Menschlichkeit sei aber nicht die Qualität im Umgang mit der technischen Zivilisation, sondern des Umgangs mit dem Tod.

Auf die Frage, ob es in Städten wie Berlin noch eine spezifische Kultur gäbe, gibt von Barloewen von einer "ästhetischen Uniformierung" einer zunehmenden Einwegkommunikation.

Die Flugzeuge, die überall hinfliegen, das Internet, das einen überall hinbringen könnte, all das würde nicht dazu beitragen, dass die Welt friedlicher geworden sei. So würden sich die Menschen zwar technisch, aber nicht menschlich näher kommen.

Das Miteinander-Sein im Cyberspace - bis hin zur Sexualität - sei ein völlig anderes geworden, würde aber würde nicht nur zu einer Aufhebung der Distanzen bis zu ihrer Auflösung führen, und also nicht zu einer Erweiterung des Erfahrungs-Raumes, sondern zu einer erneuten Verengung der Welt.

Man gewänne den Eindruck, so Barloewen, der Mensch verlöre seine "kosmische Harmonie", würde heute in einer "entseelten Welt" leben und nur noch "eindimensional" existieren [2]

Der Logos könne nicht ohne den Mythos leben, auch heute nicht, und das Cybercaffee, in dem alles (nur) ankomme, sei nicht ohne den Bahnhof und den Flug-Hafen dankbar, von dem man auch (ab-)reisen könne.

Die symbolische Bedeutung der Multiversen Paris und Berlin er-fordere heute heute ein ganz andere Konnotierung: des Geschichtlichen mit dem Virtuellen. Es bestehe in enger Zusammenhang zwischen Bio- und Kultur-Diversität. Die Angleichung des Menschen in seiner Städten durch diese Art der aktuellen Technizität bedeute eine Bedrohung.

II.

Das zweite Gespräch dieser Reihe wurde ausgestrahlt am 14. März 2010 unter dem Titel: "Kulturpolitik und das Konkrete" und gibt einen Auszug des Dialoges mit der ehemaligen Kulturstaatsministerin Christina Weiss wieder.

Kann das Konkrete der Gesellschaft auch als Text verstanden werden? Die Spannung zwischen Text und Bild, der Realitätssinn all der verschiedenen Möglichkeiten, das visionäre Denken, würde sich in der Politik nicht praktizieren können. Daher obliege es der Kunst, sich - auch rückblickend - auf einen Punkt zu konzentrieren und die Qualität der Erinnerung wieder aufleben zu lassen.

Was aber bedeutete dieser "Aufschrei wider das Vergessen"? Die Aufgabe der Künste - und zwar aller Gattungen - sei:
— "Vergangenheit zu erinnern"
— "die Wahrnehmung für die Gegenwart zu schärfen"
— "durch Konzentration und die Irritation in der Wahrnehmung von Vergangenheit und Gegenwart die Subjektivität derjenigen, die die Begegnung mit den Künsten zulassen, auszubilden: Und die Subjektivität so auszubilden, dass ein Mut wächst, dass Mut wächst, sich der Gegenwart zu stellen die durch und durch durchsetzt ist mit der Vergangenheit".
"Das sind die Elemente der Orte, der Wahrnehmung der Orte."

Das künstlerische Werk, so Weiss, müsse sich heute immer auch im internationalen Wettbewerb behaupten können. Und es sei erfolgreich, wenn der "deutsche Ort" auch als Anknüpfungspunkt für Erfahrungen eignet und anbietet, die an anderer Stelle, beispielsweise in den USA, gemacht wurden.

Auch neue Orte sollten global und lokal zugleich sein, ihre Geschichte in ihrer neuen Gestalt wieder auferstehen lassen und sei diese auch "nur" an seinen Bruchstücken erkennbar wäre. "Man muss immer wieder daran erinnern, was war, damit die Gegenwart nicht gesichtslos wird." Auch das bauliche Bild solle die Geschichte beweisen.

Gerade in der sich virtuell auflösenden Welt wieder geschichtlich fixierbare Orte und Achsen schaffen? Gerade in der globalen Orientierung gelte es, das Eigene in den Mittelpunkt zu stellen und als Mittel der Orientierung anzubieten um zu zeigen, "woher wir stammen".
Ohne dies "schwimmen wir ohne Boden und können wir nur untergehen in der globalen Welt." [3]

III.

Das dritte Gespräch dieser Reihe wurde ausgestrahlt am 21. März 2010 unter dem Titel: "Geschichte und Kunst im Austausch" und gibt einen Auszug des Dialoges mit dem Kulturmanager Bernd Kauffmann wieder.

Es geht um die Aufgabe, den Bezug der Kunst zur Geschichte aufrecht zu erhalten. Wie kann man Spiel-Arten von "sich erinnern" inszenieren?

"Kunst steht zunächst für sich selbst und Kunst ist zunächst der Künstler", sagt Kaufmann auf die Frage, wie man dieses Thema angesichts der "CyberCafés" noch verorten könne. So gäbe es für ihn nicht zwingend eine "Kunst am historischen Bau".

An der puren Ausstellung der gegenwärtigen Kunst würde er nicht mehr erkennen können, wo er sich gerade aufhalten würde. [4].

Zur Ästhetik der Begrüssung und des Umgangs in Berlin: "Wir sind ja nicht in der Lage, uns gewissermassen auch als Ort [...] in besonderen Ereignissen und Anlässen besonders darzustellen. Und sie können nicht immer nur sagen, das läge an unserer gebrochenen Geschichte - das konnten wir noch nie."

Die Kultur des Feierns: Es gäbe auch eine Feier aus nationaler Sicht, der "tiefen Bescheidenheit, der tiefen Zurückhaltung": Wir seien auch nicht - oder nur wenig - geeignet, Erinnerungsräume zu schaffen.

Mit Bezug auch auf seine eigene Arbeit formuliert er den folgenden Imperativ: "Mir geht es vielfach darum, jenseits aller Kunst-Theorie und Intellektualität immer noch Menschen zu erreichen die dieser Historie und diesem detaillierten Kenntnisstand von Gewesenem etwas ferner sind, sie gewissermassen überhaupt zum ’Erinnern’ zu bringen - wenn man überhaupt pädagogisch formulieren soll. "

Er macht das sehr konkret im Zusammenhang mit seiner Arbeit in Weimar. Dort sollte zunächst nur "Der Goethe" im Zentrum des Interesses stehen - und er habe diesem "Die Höllenfahrt von Buchenwald" als Gleichwertiges versucht entgegenzusetzen.

Für ihn, Kauffmann, geht es um die Reduktion - bis zum Exzess - um etwas Anderes zu induzieren. Und damit würde eine andere Art des Erinnerns - jenseits der Thesen der Oberlehrer der Nation - ermöglicht werden. [5]

Er spricht - im Zusammenhang der Pläne für das Humboldt-Forum - von einem "verbalen, konzeptionellen klugen Overkill" und sagt: "Wir Deutschen sind noch nicht einmal in der Lage, kluge Plätze bauen zu können." [6]

Er spricht von den "schillerschen Selbstdenkern und solchen, die noch schreiben und lesen können" und sagt skeptisch voraus "wenn uns die Erinnerung verlässt, im Rahmen dieses Zeitalters, dann werden diese Orte und was sie beschreiben - auch auf Basis der Kunst - ihre, ich würde fast sagen, ihre Fäden, die sie zueinander haben - ich würde nicht sagen Achse - verlieren."

Am Ende hiesse Kunst eben immer auch Utopie. Und dann seien wir endlich da, am "ou topos". [7] Und das sei: Kein Ort.

PS.

Eigentlich ist im Verlauf dieser drei Gespräche das Thema der "Achse Berlin - Paris" verfehlt worden. Auch dann, wenn in der Gesprächsführung immer wieder darauf Bezug genommen wurde. Es zeigt sich, dass dieser besondere Nachbar-Ort: Paris, so eigentlich nicht mehr als ein wirklicher Anknüpfungspunkt des hier zelebrierten Diskurses funktioniert.

Vielleicht deshalb, weil "Paris - Berlin" viel mehr das ist, worauf sich der Autor der Sendung immer wider gerne bezieht; Ein mentales Cybercafé, in dem alles geschehen und aufgehoben ist, was uns aus der Geschichte heraus geprägt hat - und was doch seltsam jenseits von all unserer Geschichte allenfalls heute noch als eine Ansammlung von "Geschichten" in Erinnerung geblieben zu sein scheint.

Wir werden ganz bewusst die drei hier geführten Interviews auch für die "Nachwelt" festhalten. Als Dokument dafür, dass und wie sich hier die qualifiziertesten Köpfe dieser Republik Gedanken machen über eine Welt, die ihnen eigentlich mehr und mehr zu entgleiten droht: An jenen "ou topos", an die Gefilde jener Welten, aus denen sich heute schon eine ganze Generation der von ihr erlebten Wirklichkeit annähert.

So oberflächlich, ja falsch diese Unterscheidung zwischen den - hier befragten - "Digital Imigrants" und den "Digital Natives" auch ist. Wer über die Zukunft der Welt des Realen, eines Platzes, eines Bauwerks, eines nationalen lokal fixierten Mahnmals nachdenkt muss ich nicht nur der Aufgabe stellen, etwa zu schaffen, was auch über diiese und die nachfolgende Generation hinaus Bestand haben wird. Er - oder Sie - muss sich darüber im Klaren sein, dass die Betrachtung und das Erleben eines solchen Ortes und der dort materialisierten Inszenierung von Erinnern mehr und mehr von Menschen wahr-genommen wird,
 die Erleben durch Clicks generieren und das Thema der Erfahrung auf die Festplatte ausgelagert haben
 die den Krieg nicht mehr kennen, oder in anderen Gegenden dieser Welt als permanente Bedrohung derzeit wieder erleben müssen
 die die DDR nicht mehr kennen, und doch auf ihre Weise immer wieder den Traum von einer besseren und gerechteren Welt aktiv zu träumen wagen
 die in einer fraktalisierten Welt des unmittelbaren Zugriffs auf jeden Zeit-Punkt der Geschichte als selbst-verständlich erleben ohne sich dafür selbst noch als Verstandesmenschen erleben zu müssen
 die....

... wir brechen diesen Diskurs hier ab. In Berlin und Paris sitzen keinen Achsenmächte mehr. Der Text auf dieser Seite wird mit Hilfe einer französischen freien Software geschrieben und derzeit arbeitet in diesem Büro in Berlin eine Französin als Praktikantin. Es gibt derzeit wohl kaum eine schwierigere Aufgabe, als das Selbstverständliche auch verständlich werden zu lassen, das Aktuelle als Ausfluss von Geschichte und Zukunftserwartungen. Sendungen wie die hier besprochenen tragen dazu ihren Teil bei. Und wir, die wir uns dieser Thematik auf unsere Art und Weise annehmen, auch.

WS.

Anmerkungen

[1Titel wie "Prof.", "Dr." etc. wurden - wie auf den Internetseiten des Deutschlandfunks auch - bei allen Namen in diesem Beitrag bewusst "unterschlagen". Sollte jemand diese vermissen oder davon irritiert sein, bittet der Autor hiermit vorsorglich um Entschuldigung. WS.

[2All diese wird mit den jeweiligen literarischen Exkursen auch belegt, dieses kann aber in dem hier aufgezeichneten Gespräch auch nochmals selbst nachgehört werden:

Es gelten die Regeln des Urheberrechts all rights reserved


"http://ondemand-mp3.dradio.de/file/dradio/2010/03/07/dlf_20100307_0930_75b3bcf8.mp3", Zugriff vom 21.03.2010.

[3Dieser Satz liest sich wie ein Motto zu einem der Entwürfe für ein Denkmal zur Deutschen Einheit und Freiheit, in dem auf dem historischen Boden eine mit Wasser überströmte Platte aufgesetzt wurde, auf deren dann verschwommenen Oberfläche die "die Welt" - inklusive derer, die sich gerade an diesem Ort aufhalten - spiegelt.
Nachzuhören unter:

Es gelten die Regeln des Urheberrechts all rights reserved

"http://ondemand-mp3.dradio.de/file/dradio/2010/03/14/dlf_20100314_0930_45f2a92a.mp3"

[4Ein gleiches Beispiel hatte im Interview zuvor Frau Weiss in Bezug auf die Hotel-Zimmer gebracht...

[5Und das - auch wenn er das auch so nicht sagt - gehe auch nur so, wenn man denn der Freiheit des Zudenkens einen Raum geben wolle. WS.

[6Mehr dazu in der Aufzeichnung

Es gelten die Regeln des Urheberrechts all rights reserved

zitiert nach: "http://www.dradio.de/dlf/sendungen/essayunddiskurs/1147152/".

[7οὐ τόπος (ou topos) „kein Ort“


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