Schreiben, was das Zeug hält.

VON Dr. Wolf SiegertZUM Samstag Letzte Bearbeitung: 17. Mai 2013 um 00 Uhr 03 Minuten

 

0.

Der Zugschaffner ist leider nicht in der Lage, den auf dem Tisch vor dem Schlafenden ausgelegten Fahrschein mit diesem in Verbindung zu bringen – und so ist der Traum abrupt ausgeträumt. Das Ticket wird präsentiert und abgenickt, da es bereits abgestempelt war. Der Schlaf wird aus den Augen gerieben. In der unmittelbaren Umgebung haben sich eine Reihe von Männern in Hemd und Schlips platziert. Die Rechner werden in Stellung gebracht und der aktuelle Status gecheckt.

Auch eine Frau ist dabei. Sie hat all ihre Daten auf einem iPhone. Sie ruft ihre Sekretärin, „meine Liebe“, an und bittet sie, das ihr übermittelte Dokument nochmal zuzusenden, samt ALLER Anlagen. Sie bestellt sich einen Cappuccino. Und als sie den Zucker hinzugeschüttet hat, lächelt sie sogar herüber. Unglaublich aber wahr: in all dieser Männertruppe eine Frau, die mit in diesen Tross gehört und doch noch so etwas wie eine Seele verspüren lässt.

Man kommt sich schon fast wie eine missplaced person vor, ohne Hemd und Krawatte, die es gewagt hatte, sich über zwei Sitze auszustrecken und den neuen Tag schlafend zu erwarten.

1.

Setting the stage. Die Reise heute ist nicht beruflicher Natur. Und die Art und Weise, den Tag anzugehen und sich die anderen Tagkräftigen um einen herum anzusehen, ist eine ganz andere, als in jenen Situationen, in denen man sich eben diesen Leuten selber zugehörig sehen würde.
Und so kann der Rechner in aller Ruhe sich seine Updates und neue Daten aus dem Netz ziehen – heute wird er nur und ausschliesslich als Schreibmaschine, als Denkprotokollant eingesetzt.

Dabei, das zeigt der Blick in die Runde schnell, ist es die weitaus performanteste und aufwändig diskret gestaltete Maschine im gesamten Umfeld. In der, zugegebener Massen, kein einziger Apple-Rechner zum Einsatz gebracht wird.

Stattdessen wird ein Kaffee bestellt und ein Blick aus dem Fenster geworfen: blauer Himmel und eine flachgrüne Landschaft, immer wieder unterbrochen durch knallgelbe Rapsfelder.

Luxus. Dieses ist purer Luxus. Einmal nicht dazugehören zu müssen, einmal nicht telefonieren zu müssen, einmal nicht angewiesen zu sein auf die Anforderungszwänge der „to-do“-Listen.

Und als der Kaffee gebracht wird, gibt es heute eine kleine Packung Zucker dazu. Zur Feier des Tages.

2.

Und das ist gut so.

Denn es ist Zeit innezuhalten, in einer mit zwei Tagen schon wieder fast alten Zeitung.

Die mit zwei grossen Beiträgen aufmacht: Obama hat seinen Laden nicht mehr im Griff, während US-Forscher bekanntgeben, dass es ihnen gelungen sei, was 2004 noch als Ente verkauft werden konnte: das Entwickeln und Klonen von pluripotenten Stammzellen.

Der Wunsch-Mensch wird möglich – theoretisch, während die Politik nach Wunsch, selbst für den angeblich mächtigsten Mann dieser Welt, den US-amerikanischen Präsidenten, ein Wunsch-Traum bleibt. Einst der Hoffnungsträge all jener, die sich eine „bessere Welt“ gewünscht hätten. Und heute, so die Überschrift des Kommentars von Christian Wernicke auf der Seite 4 der „Süddeutschen“, „Am Ende“: „44 lange Monate“ vor dem Ende seiner zweiten Amtszeit. Und damit seiner Zeit als Präsident überhaupt.

Auf der gleichen Seite 4 geht es um einen bereits erfolgten Abgang. Von Werder-Trainer Thomas Schaaf. Einleitet mit den ersten Zeilen aus der Legende von den Bremer Stadtmusikanten. Und am Ende ausgeführt mit den Sätzen „Er hat die Säcke geschleppt, unverdrossen. Bis sie einander müde waren.“ Bravo, Ralf Wiegand. Solche Sätze liest man gerne, selbst wenn man sich mit diesem Verein ebenso lange verbunden gefühlt hat wie Thomas dort Mitglied war: Und das waren über 40 („vierzig“) Jahre.

Es ist wirklich toll, gute Texte in einer guten Zeitung lesen zu können, selbst wenn die dargestellten Verhältnisse alles andere als gut zu nennen sind: etwa die Vernichtung von einer knappen halben Milliarde an Steuergeld, von UNSEREM Geld, für die Entwicklung des unbemannten Flugkörpers „Euro Hawk“, der nun nie zum Fliegen kommen wird. Oder der Text von Cornelius Pollmer über einen schwarzen deutschen Politiker aus Halle an der Saale, der sich um ein Mandat für den nächsten Bundestag bewirbt .

Doch damit nicht genug. Bereits die Seite Eins wartet mit einem Bericht über einen Bericht von Heribert Prantl aus der Zeitschrift „Neue Kriminalpolitik […]“ auf, in der wiederum berichtet wird, dass Häftlingen in Brasilien ein Teil ihrer abzusitzenden Zeit erlassen wird, wenn sie über die von ihnen rezipierten Bücher Exzerpte verfertigen und abliefern. Auch dieser Bericht wird eingeleitet wie abgeschlossen mit einem Geleit- und Ausleitwort des Philosophen Immanuel Kant. Dabei wird der Ausdruck von der „selbstverschuldeten Unmündigkeit“ in direktem Bezug zum Schicksal der Knackies gesetzt.

3.

Diese Zeitung, der Dialogabschnittspartner der nächsten guten Stunde, hat aber noch viel mehr zu bieten. Wobei ein weiterer Bericht aus der Akademie … der Technikwissenschaften (Acatech) von Christopher Schrader auf Seite 16 die ganz besondere Aufmersamkeit verdient. Wegen dieses Satzes von Johannes Buchmann von der Technischen Universität Darmstadt: „Zurzeit bezahlen alle mit persönlichen Daten für die angeblich kostenlosen Dienste. Die sind im Internet Ware und Währung. In Zukunft hätte man die Wahl, mit Geld zu bezahlen.“ Darauf Marit Hansen vom Unabhängigen Landeszentrum für Datenschutz Schleswig-Holstein (ULD): Und womit dann in Zukunft ein Hartz-IV-Empfänger „zahlen“ würde, für die/den sich solche Premium-Dienste schon von vornherein verbieten würden? Private per Pay?

4.

So, kurz bevor der Zug im Zielbahnhof ankommt, noch ein Artikel von der nachfolgenden Seite 17: Darin stellt Thomas Fromm die Einführung der Neuen Mercedes S-Klasse mit Pomp und Party der neuen Moovel-App aus dem gleichen Hause gegenüber. Und kulminiert diese Gegenüberstellung in dem Satz: „Nicht mehr das Auto ist die Botschaft, sondern die Fortbewegung.“ Quod erat demonstrandum - sagt der ausgeschlafene Zugfahrer, stellt die leergetrunkene Tasse Dallmayr-Kaffe an die Seite, sichert diesen Text, fragt nach, ob wegen der voraussichtlichen Verspätung der Anschlusszug vorgemeldet sei, und klappt den Rechner zu.

5.

Auf stand-by, bis zur nächsten Geschichte im nächsten Zug. Falls er denn noch erreicht wird...

... doch das Wunder dauert ... etwas länger. Der vorgemeldete Anschlusszug kann nicht warten. Die Fahrt mit dem nächsten Anschluss-Zug führt zu einer Verzögerung von zwei Stunden.

Oder man fährt über Lüttich. Alles gut und schön. Wenn denn der Bedienstete am Bahnhof in Köln seinen Stempel finden könnte, damit der Fahrschein auch zur Durchfahrt durch Belgien gültig ist.

Aber er findet ihn nicht.

Was also tun? Zwei Stunden verspätet ankommen oder dennoch über Belgien fahren, ohne den richtigen Stempel auf dem Ticket zu haben?


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