ODJT-Leipzig (gestern)

VON Dr. Wolf SiegertZUM Samstag Letzte Bearbeitung: 21. Oktober 2013 um 22 Uhr 51 Minuten

 

ODJT steht für Ostdeutscher Journalistentag, eine Veranstaltung der DJV-Landesverbände: Berlin, JVBB, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen und Sachsen-Anhalt.

Dieses ist nach Berlin der zweite und wird vom DJV-Sachsen in Leipzig in der Zentrale des Mitteldeutschen Rundfunks, Kantstraße 71-73, im Hochhaus auf der 13. Etage organisiert.

HIER ist das Programm im Überblick:

Am Vorabend, den 11. Oktober 2013 treffen wir uns ab 20 Uhr in der Alten Handelsbörse am Naschmarkt in Leipzig-

Das Thema lautet:

Fundierter fragen, besser berichten -
die journalistische Verantwortung rund um den NSU-Prozess

Die Gesprächspartner sind:

Michael Kraske, Dorothea Marx, Patrick Schreiber. Andreas Speit,

Moderation: Andreas Postel [1]

Da an anderer Stelle sicher ausführlicher berichtet werden wird, hier nur das eine oder andere Stichwort mit Aussagen von diesem Abend:

 Dorothea Marx: Vorsitzende das Untersuchungsausschusses in Thüringen:

Über 5000 Ordner gesichtet, ein "Aktenzunami".

Die Frage, ob es sich hier um ein "Terrortrio" handeln würde, ist längst nicht mehr aktuell, als klar wurde, dass es sich um ein ganze Netzwerk gehandelt hat.

Daraufhin ist die Untersuchung sehr viel breiter angelegt worden. Die Ausgrenzung der "Bösewichter" ist nicht der richtige Weg. Zumal sich die "anderen -Rechten" deswegen noch lange nicht schämen würden. Heute ist klar, dass es um Strömungen geht, die bis in die Mitte der Gesellschaft reichen.

Eine Aktenvernichtung ist keine Panne, sondern Sabotage. Zumal in Thüringen die meisten Akten ungeschwärzt eingesehen werden konnten.

Machen Journalisten die Arbeit von Ermittlungsbehörden und wenn ja, hat das geholfen? "Zumeist Ja." Akten von "nfD" (nur für den Dienstgebrauch) bis "streng geheim", werden oft abgestuft und können dann mit eingeführt werden.

Offene Fragen: Warum sind "die Drei" nicht gefasst worden? Wir haben zu viele Dinge gefunden, die wir uns nie zu denken gewagt haben. Auch das Thema der Aktenvernichtung ist nicht abgeschlossen. Und dann bleibt immer noch die Aufgabe, Schlussfolgerungen zu formulieren und zu fixieren.

"Auch die Verfassungsschützer sollen die Verfassung schützen und nicht irgendwelchen Blödsinn machen."

Es geht nicht mehr um die Arbeit der Aufklärer als "Netzbeschmutzer" sondern darum, das ihre Arbeit inzwischen Anerkennung findet und Zustimmung.

 Patrick Schreiber: Vorsitzender des sächsischen Untersuchungsausschusses

Beim Thema NSU ist die Staatsregierung viel offener als früher. "Wir liefern alles, was wir haben - wir liefern auch nach, wenn wir noch mehr finden."

"Ich kann die Medien verstehen... aber das war im Ergebnis eher kontraproduktiv."

"Ich kann nicht behaupten, dass alle Akten da sind." Und als jetzt nochmal 1.800 Aktenordnern als Lieferung angekündigt wurden, muss überlegt werden, ob man sich diese vorab kommentieren lässt, um überhaupt vernünftig auswählen zu können.

Wir erleben monatlich im Plenum in Sachsen, dass die Nazis im Landtag zu ihrer Sache reden. Die NPD- Erfolge in der sächsischen Schweiz: da muss man nach den Ursachen fragen. "Warum ticken die so?"

Und warum hat die AFD in Sachsen 7% bekommen? Sind das jetzt auch Nazis?

Sagt, warum er Vorsitzender des Untersuchungsausschusses war und verwehrt sich dagegen, wie ein Journalist seine Aussagen nach einem langen Telefongespräch im Mund herumgedreht habe:
— weil die CDU dran war
— weil man mit den Infos gut umgehen muss
— weil man nahe am Landtag ist
— weil man sowas schon mal gemacht hat.

 Michael Kraske, Journalist aus Leipzig

Die Behörden waren ganz und gar nicht blind, sondern die haben sehr genau hingeschaut. Das System war hochgradig ausgespäht. Und deshalb ist die Frage nach der Verantwortlichkeit zu stellen. "Es werden immer noch zu wenig die richtigen Fragen gestellt." [Applaus]

"Offensichtlich funktioniert die parlamentarische Kontrolle nicht."

"Der Primat der Politik scheint offensichtlich nicht bei jedem Verfassungsschützer angekommen zu sein."

Ein Reihe offener grosser Fragen sind nicht durch einen Abgang von Personen geklärt worden. Es reicht nicht, zu personalisieren, es geht um ein Systemversagen, denn es hat sich nichts verändert: Ein Obdachloser wurde zu Tode getreten, von einem Rechtsradikalen. Und in Bad Schandau kommt ein chinesischstämmiger Junge aus Hamburg unter die Räder. Und wird zum Opfer.

Die These: seit dem NSU-Prozess ist solcher Alltag von noch geringerem Interesse als vorher.

Wir als Journalisten brauchen Personalisierung und wir brauchen das Neue.
Inzwischen ist ein Normalisierungs- und ein Gewöhnungseffekt eingeteten.

Und das Schlimme ist, selbst als Rechercheur gewöhnt man sich an diese Verhältnisse, wenn sie einem wieder und wieder begegnen...

Zum Schluss was Hoffnungsvolles: es werden mehr und mehr "diese Schubladen" von Links und Rechs überwunden. Nicht alle Rechte sind alle Neonazis.
Aber: "Todesstrafe für Kinderschänder-Aufklärer sind heute schon Mainstream" - und das ist das Problem.

 Andreas Speit: Journalist bei der taz

Ein Gericht hat einen völlig anderen Auftrag als ein Untersuchungsausschuss. All die Fragen, die sich die betroffenen Familien stellen, sind leider "juristisch irrelevant". Der Richter ist noch etwas offener gegenüber diesen Bedürfnissen, der Generalbundesanwalt dagegen nicht.

Journalisten, die auch ermitteln, sich auch ein Problem. Umso grösser die Überraschung, dass es immer noch Verschlussakten gibt. Es gibt offensichtlich eine "unglaubliche Hörigkeit" gegenüber der Medienwelt.

"Meine Erfahrung ist die, dass die Verfassungsschutzstrukturen allenfalls bestätigen, was man auch selber erfahren hat."

Es gibt ein strukturelles Versagen und das bedeutet, eine analytisches Versagen zum Thema Rechtsextremismus in den Ermittlungsbehörden.

In Thüringen wird "Blood and Honour" untersucht, in Sachsen nicht. Warum?

Wenn das Opfer nicht prominent ist, kommt es zu einer Art Normalisierung des Terrors und der rechten Gewalt. Und Reaktionen wie diesen: "Andreas, wir haben jetzt drei Tage wieder nur die Nazis in der Zeitung. Kann es da nicht nur mal einen Tag ohne geben?"

Vielleicht sollte man sich wieder mehr aus der Sicht des Opfers dem Thema nähern. Not sind investigative Recherchen, etwa zu diesen Themen:
— Rechtsrock
— Erziehung von Kindern und Jugendlichen
— Frauen in der rechtsextremen Szene

Wozu sind die Redaktionen dazu noch bereit. Und sind sie noch aufmerksam? Es melden sich heute auch Leute aus den Behörden, die mit ihrer Arbeit intern nicht weiterkommen. Das ist beachtenswert.

Am 45. Verhandlungstag zeigt sich schon eine Welle, mit einem starken Anfang und nachfolgenden gelegentlichen "top acts". Später ist es offenslchtlich mit diesen Klischees vorbei, die Springerstiefel und Glatzen repräsentieren nicht mehr die Gefahr, die immer noch besteht.

Die Kolumne in der taz ist Ausdruck dieser beständigen fortgesetzten Berichterstattung, leise und kontinuierlich. Selbst wenn sie die LeserInnen und Leser nervt.


Ein Kommentar?

Allenfalls dies: Es wurde wirklich offen und mit der Bereitschaft zuzuhören, diskutiert. Auch über potenzielle Parteigrenzen hinweg. Und das war gut so.

Auch war es gut so, dass all jene, die sich seit Jahren der Dokumentation und Aufarbeitung dieses Themas verschrieben hatten, endlich auch die Möglichkeite bekommen haben, sich damit auch in der Öffentlichkeit bemerkbar zu machen - und ihre unendliche Mühe auch zu monetarisieren.

Dessen ungeachtet bleibt aber auch die Erfahrung, dass auch ein solch wichtiges Thema wie dieses von "Konjunkturen" abhängig ist, von "Hypes" und auch jetzt noch langen Strecken der Nichtbeachtung, die der Gewöhnung geschuldet sind.

Anders gesagt: Seit dem "NSU-Knaller" ist die alltägliche Gewalt noch weniger "interessant" geworden, holt sie noch weniger "Hunde hinter dem Ofen" hervor, verstärkt sich noch mehr die Tendenz, die "Bösen" zu personalisieren und "das Böse" zu individualisieren, ihm ein "Gesicht" zu geben. Ein Gesicht, das man möglichst zu einer Fratze verstellt sehen möchte, um sobesser nachvollziehbar machen zu können, was da angerichtet wurde.

Noch anders gesagt - und gefragt: Welche formalen, gestalterischen, dramaturgischen, satztechnischen... Mittel kann man sich noch einfallen lassen, um auf diesen alltäglichen Terror gegen Minderheiten aufmerksam zu machen. Und dieses immer wieder neu als Skandal anprangern zu können?

Final gefragt: Wie sexy kann und muss eine Analyse sein, die die Herzen und Sinne nicht ausser Acht lässt, auch wenn sie versucht, nichts anderes zur Aufklärung zu bringen, als die Wahrheit. Die eigentlich doch so "einfach" zu be-schreiben und so schwer zu verbreiten ist?

Anmerkungen

[1gut gemacht. WS.


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