Die Schule und der Krieg...

VON Dr. Wolf SiegertZUM Samstag Letzte Bearbeitung: 17. November 2015 um 21 Uhr 56 Minuten

 

... oder: Was wir aus den Erfahrungen des Krieges - nicht - gelernt haben.

0.

Dieser Text entsteht an einem wunderbaren Samstagvormittag. Die Sonne hat die Kraft, den morgendlichen Nebel zu vertreiben. Das helle Licht macht die Wege und Strassen noch sicherer. Dennoch mahnt das viele Laub zur Vorsicht: Bei der Fortbewegung. Aber auch im Umgang mit der eigenen Lebenszeit.

1.

"Die Franzosen" laden "die Deutschen" ein, nach Frankreich zu kommen, um sich dort die Schlachtfelder des ersten Weltkrieges anzuschauen: Das, was davon übrig geblieben ist. Einst Kraterlandschaften, von Geschosseinschlägen verwüstet, übersät mit den Leichenteilen der Getöteten, die sich heute nur noch erahnen lassen.

Schliesslich macht der Tourismus in Frankreich mehr als 7% des BNPs aus. Also sollten wir Deutsche nicht allein kommen, sondern am besten gleich in ganzen Scharen. Und als Lehrer gleich die ganze Klasse mitnehmen: damit "die" was lernen können: die Jungen und Mädchen. Jene also, für die der Krieg genauso fern ist, wie ein uneingelöstes Versprechen, das verlorene Smartphone wiederfinden zu können.

2.

Alles wird aufgeboten, um diesem Ziel möglichst nahe zu kommen, aus ökonomischen Gründen genauso wie aus der innerlich gefühlten Verpflichtung heraus, "nie wieder Krieg" ausrufen zu wollen - und dafür zu kämpfen.

An diesem "Kampf" rückblickend nochmals einen Moment lang teilhaben zu dürfen, ist ein grosses Privileg. Und sodann darüber zu schreiben, entbehrt nicht einer grossen Verantwortung. Es ist ebenso so positiv wie bedrückend zu sehen, zu erleben, zu spüren, welche Auswirkungen die hochsubventionierte Inszenierung eines solchen historischen Kampfes heute noch haben kann.

Dazu werden ein Reihe von Lehrern unter recht luxuriösen Bedingungen zu einem Workshop eingeladen, der dabei Hilfestellung geben soll, dass sie dieses Thema des ersten Weltkrieges "besser" an ihre Schülerinnen und Schüler weitergeben mögen. Sie haben es echt gut: Im lichtdurchfluteten Tagungsraum stehen nicht nur Getränke und Essen bereit, es sind auch Arbeitsgruppenplätze eingerichtet, in denen es um Themen geht wie: BildPostKarten und Feldpostbriefe, die es zu erörtern gilt.

3.

Als sie dann aber, im Anschluss an ein morgendliche Klavierdarbeitung, um eine aktive Mitarbeit gebeten werden, ist Schweigen angesagt. Auf die erste Frage - an alle - welche Erinnerungen sie denn aus ihrem Elternhaus mit dieser Zeit verbinden, ist komplettes Schweigen "angesagt". Bis sich zumindest eine Stimme meldet und einen Kommentar abgibt. Mehr aber kommt nicht. Also muss die Moderatorin selber aus ihrer Familien-Geschichte erzählen ... und sodann das Thema wechseln.

Spätestens jetzt ist es Zeit, zu gehen. Nicht nur, dass es offiziell gar keine Einladung zur Teilnahme an dieser Begegnung gab und daher im Nachhinein "eigentlich" auch gar nicht darüber berichtet werden dürfte, sondern auch, da bereits zu diesem frühen Zeitpunkt des Workshops die Beobachtungen so viele Gedanken ausgelöst haben, dass es Zeit ist zu gehen, diese zu sammeln - und hier "zu Papier" zu bringen.

4.

Genährt von der Entscheidung, selber nicht zeitlebens Lehrer an einer Schule sein zu wollen - auch wenn die formalen Qualifikationen mit zwei Staatsexamina dafür weitestgehend vorliegen - fällt es als besonders bedrückend auf, wenn die junge Moderatorin darauf anspielt, dass sie - gerade erst dem Status der Schülerin erwachsen - nun selber als "strenge Lehrerin" auftreten wolle: "Zur Strafe..." wie sie im Scherz meint. Und doch nicht nur im Scherz, perpetuiert sie doch ein altes Schul-Ritual, dem sich alle Anwesenden auch unter diesen besonderen Bedingungen bereit zu sein scheinen, sich ihnen zu unterziehen. An diesem wunderbaren Herbsttag und angesichtes eines Kamins, in dem ein echtes Feuer brennt, sind wir - wider Erwarten - doch wieder in der Schule.

Stelle Dir vor, es wäre keine Schule... und doch will jeder hin! Warum nutzen all diese erwachsenen Menschen nicht die Chance, die ihnen geboten wird, sich dieser von ihnen selbst gesetzten Rahmen-Handlung zu entziehen. Warum suchen sie nicht nach einem eigenen Handlungs-Rahmen, in dem sie die Chance hätten, frei zu reden. Ja, sich zumindest zeitweise zu befreien von den Zwängen, die sie als Ritual selbst in solche exquisiten Momente einer Fortbildungsveranstaltung anscheinend nicht ablegen können?.

5.

Nein, das ist kein KollegInnen-Bashing, sondern zunächst eine an diesem Sujet abgeleitete Reflektion darüber, warum die Entscheidung, nicht selber "nur" Lehrer zu werden, die richtige war. Vom TV-Sender TV5Monde - vom Autor dieser Zeilen einst selbst in Deutschland vertreten - über die Vertreterinnen der französischen Kultur- und Tourismus-Einrichtungen, bis hin zu den politischen Instanzen: Sie alle tun das ihre, um den LehrerInnen dazu zu verhelfen, "ihren" Schülerinnen und Schülern so vom Krieg zu erzählen, dass diese etwas damit anfangen, ja, dass sie bestenfalls etwas zu verstehen gelernt haben können.

Aber wie soll das gehen, wenn schon damals eine schier - im direkten Sinne des Wortes - un-vorstellbare Masse an Menschen ihr Leben dafür opfert, um noch - zumindest bis in den ersten Kriegswinter hinein - mit Bajonetten bewaffnet mit der todesmutigen Verzweiflung eines vermeintlichen Heldentums in die Maschinengewehrsalven zu laufen, um darin elendig zu verrecken?

6.

Ja, vielleicht ist es gut, tatsächlich zumindest einmal an diese Orte des eigentlich unvorstellbaren Leidens und Schreckens, des Elends und der Verzweiflung, des "todes-mutigen" Handelns von so unendlich vielen Menschen zu fahren. Menschen, die sich in vielen Fällen sogar frei-willig dafür entschieden hatten, dieses Risiko des frühen Todes auf sich zu nehmen. Für was? Warum?

Wie kann man antworten auf Fragen wie: "Wie konnten die damals nur so blöd sein?" Gespeist von den Erlebnissen, die die "Unterhaltungs"-Industrie mit abertausenden im Rechner geklonten virtuellen und auf der Leinwand realisierten Spiel-Figuren heute anzubieten vermag? Vielleicht ist die Realität, selbst das Wenige, was von und auf diesen ehemaligen Schlachtfeldern noch zu sehen ist, immer noch stärker und wirkmächtiger als jegliches Wort, jeder Roman (wer liest denn noch Romane?) und jeder Film?

7.

Muss also - durchaus im Positiven gesehen - solche Art des Gedenktourismus’ ersetzen, was auch die Lehrer an den Schulen nicht zu vermitteln in der Lage sind: Weil sie ... es nicht können, nicht wollen, es ihnen verwehrt wird, sie dazu nicht den Mut haben? Oder weil von Seiten der Schülerinnen und Schüler sonst an einem Thema wie diesem "Null Bock" signalisiert wird?

Bestenfalls machen sich die freigestellten Mittel für die Reise einer deutschen und einer französischen Schulklasse dann wahrlich "bezahlt", wenn diese gemeinsam eine Woche bei der Grabpflege auf einem der Kriegsgräberfriedhöfe verbringen, wenn sie an jedem aufgestellten Kreuz, an jedem gesetzten (Gedenk-)Stein erneut einem der Toten nochmals persönlich begegnen (müssen).

8.

Auch heute leben wir erneut in Zeiten der Ausgrenzung des Todes. Wir finden bis heute keine überzeugende Antwort auf die Frage, warum all die Schrecken und all das Grauen aus diesen vier Kriegsjahren - von denen keiner geglaubt hat, dass sie sich so schier unendlich in die Länge ziehen würden - nicht dazu geführt haben, dem Krieg nach 1918 den Tod zu erklären. Stattdessen wurden die einmal geschlossen Waffenbrüderschaften weit über den Krieg hinaus von den Überlebenden weiter "gepflegt". Und überall auch aktiv fortgesetzt, wo sich dieses anbot: Bis hin zu den Privat-"Armeen" der politischen Parteien, der Linken wie der Rechten.

In der Folge einer solchen hier auf diese Stichworte verkürzten Analyse ist es wahrlich frag-würdig, wie die heute anstehenden Aufgaben bewältigt werden können, wenn dies nicht einmal angesichts der gerade erst überwundenen Kriegserfahrungen und Bilder in den zwanziger Jahren gelingt / gelungen ist.

9.

Natürlich müssen solche Veranstaltungen wie die hier kurz skizzierte sein. Es gut, dass es sie gibt. Aber gerade weil es sie gibt, ist es von Nöten, sich auch in der persönlichen Auseinandersetzung diesem Thema zu stellen. Und da können die Damen und Herren aus der Lehrerschaft wahrlich von ihrer Klientel einiges lernen: Nicht immer alles "hinter dem Berg halten", die eigene Person als Persönlichkeit mit in den Diskurs einbringen, dabei als positives Beispiel vorangehen und vorführen, dass ein solcher kollektiver Diskus mehr zu leisten vermag, als das Ganze mit einem erhobenen Daumen zu quittieren, mit einem "lol" oder einer Freundschaftsanzeige.

Sorry, Folks: Aber wenn ihr nicht einmal den Mut habt, in einem so privilegierten Rahmen offen anzusprechen, "was Sache ist", was Eure Sache sein könnte, wie sollen dann eure Schülerinnen und Schüler verstehen können, was vor 100 Jahren Sache war? Als eine von sich selbst überraschte sogenannte Zivilisation entdeckte, was es bedeutet, wenn die neuen Technologien all ihre bisherigen Lebens- und Kampf-Erfahrungen über den Haufen werfen. Wenn es den Krieg um des Krieges willen gab, am Schluss mit mehr Verletzten und Toten in der Zivilbevölkerung als auf den Schlachtfeldern. Und mit der Einübung dessen, was dann ein "gutes" Jahrzehnt danach öffentlich unter dem Jubel der begeistert zustimmenden Massen propagiert worden war: der totale Krieg.

10.

Halt: Noch ist dieser Text alles andere als fertig, rund, ausgewogen, objektiv... aber er wird dennoch an dieser Stelle in all seiner Vorläufigkeit und Subjektivität zur Diskussion gestellt. Und bevor darüber nachgedacht wird, wie das Alles weitergehen kann, ob und ggf. wie dieses Dilemma überhaupt aufgelöst werden kann, ist vielleicht zunächst einmal ein Pause angesagt?!

Mach’ Dir also ein paar schöne Stunden: Geht ins Kino und schaut Euch jenen Film an, der ab dem 5. November auf der Leinwand zu sehen sein wird: "Die Schüler der Madame Anne".

Und danach, danach reden wir weiter.

WS.


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