NoShow: Jüdisches Gymnasium Moses Mendelssohn

VON Dr. Wolf SiegertZUM Dienstag Letzte Bearbeitung: 28. Januar 2020 um 18 Uhr 29 Minuten

 

Dienstag, 28. Januar 2020, 10.30 Uhr
Berlin, Jüdisches Gymnasium Moses Mendelssohn, Große Hamburger Str. 27
Diskussionsveranstaltung des Bundespräsidenten und des Präsidenten des Staates Israel mit Schülerinnen und Schülern des Jüdischen Gymnasiums Moses Mendelssohn

Das Bemühen, an diesem Termin teilnehmen zu können, war eben sowenig erfolgreich wie vorangehende Bemühungen. Es ist leider erschreckend deutlich geworden, dass es weder ein Jung, noch ein Rezo, noch ein Willemsen es vermocht haben, mit ihrem jeweiligen Engagement nachhaltig etwas im Establishment der Politik-Kommunikation zu verändern. Im Gegenteil, man hat als Aussenstehender den Eindruck, dass sich angesichts der zunehmenden Angriffe... ach, lassen wir das!

Wir stellen stattdessen den aktuellen Dialog mit den entsprechenden Einrichtungen hier im Anhang mit ins Netz [1]. Für die Akkreditierung verlangt wird die "persönliche Vorlage eines gültigen Reisepasses oder Personalausweises in Verbindung mit dem Original der Bestätigung des beauftragenden Medienunternehmens". Ist man aber selber "Medienunternehmer" und Journalist in Personalunion, ist man damit offensichtlich nicht für das Referenzcluster der zuständigen Behörden satisfaktionsfähig. Und ist auf Aussagen angewiesen, die im Konjunktiv der bestehenden Möglichkeiten hängen bleiben.

Also nutzen wir stattdessen das so freigewordene Zeitfenster, um auf diese weiteren öffentlich zugänglichen Quellen zu verweisen:

Im Zusammenhang mit der Dokumentation des Dialoges mit Jugendlichen wurden im "jetzt" der Süddeutschen Zeitung am 24. Januar 2020 diese Protokolle von Nora Pauelsen veröffentlicht:
„In Auschwitz werden Dimensionen sichtbar, die sprachlos machen“
Judith, Paula und Max erzählen von ihrem FSJ in Auschwitz.
,

Und in dem Satz dieser Überschrift wird schon deutlich, was uns seit dem Satz von den Gedichten beschäftigt, die man seit Auschwitz nicht mehr würde schreiben können. Hier an dieser Stelle nochmals dieses Adorno-(Kulturkritik und Gesellschaft)-Zitat aus den Gründungstagen dieser Republik, ergänzt um zwei zeitlich nachfolgende Texte aus den Jahren 1962 (Engagement) und 1966 (Negative Dialektik, Meditationen zur Metaphysik):

"Noch das äußerste Bewusstsein vom Verhängnis droht zum Geschwätz zu entarten. Kulturkritik findet sich der letzten Stufe der Dialektik von Kultur und Barbarei gegenüber: nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch, und das frisst auch die Erkenntnis an, die ausspricht, warum es unmöglich ward, heute Gedichte zu schreiben."

"Den Satz, nach Auschwitz noch Lyrik zu schreiben, sei barbarisch, möchte ich nicht mildern; negativ ist darin der Impuls ausgesprochen, der die engagierte Dichtung beseelt."

"Das perennierende Leiden hat soviel Recht auf Ausdruck wie der Gemarterte zu brüllen; darum mag falsch gewesen sein, nach Auschwitz ließe sich kein Gedicht mehr schreiben. Nicht falsch aber ist die minder kulturelle Frage, ob nach Auschwitz noch sich leben lasse, ob vollends es dürfe, wer zufällig entrann und rechtens hätte umgebracht werden müssen. Sein Weiterleben bedarf schon der Kälte, des Grundprinzips der bürgerlichen Subjektivität, ohne das Auschwitz nicht möglich gewesen wäre: drastische Schuld des Verschonten. Zur Vergeltung suchen ihn Träume heim wie der, daß er gar nicht mehr lebte, sondern 1944 vergast worden wäre, und seine ganze Existenz danach lediglich in der Einbildung führte, Emanation des irren Wunsches eines vor zwanzig Jahren Umgebrachten."

Schweigen, weil es nicht möglich ist, über das Erlebte reden zu können Und letztendlich lernen, darüber reden zu müssen, weil man über das Erlebte nicht länger wird schweigen dürfen, angesichts all Jener, die dieses Geschehen wissentlich verschweigen wollen, oder leugnen, oder - bis heute noch - gutheissen. Und zu akzeptieren, dass der Tag kommen wird, an dem man nicht mehr wird darüber reden können.

Und dann, dann kommt immer wieder die Frage, was Worte ausrichten können, ob ihre Kraft gestützt werden müsse durch das (Bewegt-)Bild, mit den Mitteln der Kunst, oder das Erleben vor Ort. Und was, wenn die Zeitzeugen, die überlebt haben, kein persönliches Zeugnis mehr ablegen können, es sei denn, als interaktive Avatare?

Am 21. Januar 2020 war auch die Bundeskanzlerin Dr. Merkel bei der Eröffnung der Ausstellung „Survivors“ am 21. Januar 2020 in Essen anwesend, sprach dort von ihrem Besuch der Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau [2] und sagte:

[...] die dort verübten Verbrechen lassen einen eigentlich nur verstummen. Niemand kann das Leid wirklich ermessen außer den Menschen, die in diese Hölle gestoßen wurden.

Und in der Sendung Fazit im Deutschlandfunk Kultur wird Elke Grygiewski nach ihren Erfahrungen im Umgang mit den Jugendlichen - und ihrem Schweigen - befragt:

Der Bezug dazu ist die heute ebenfalls in Berlin stattfindende Begegnung im Hause des Deutschlandfunks Kultur zum Thema: 75 Jahre Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz „Die Auseinandersetzung mit der Geschichte ist nie abgeschlossen“, der man auch über einen Livestream beiwohnen kann.
Dort geht es u.a. auch um die Rolle der "Zeitzeugen nach den Zeitzeugen" - angesichts der wachsenden zeitlichen Distanz zum historischen Geschehen und der sich veränderten gesellschaftlichen Verhältnisse.
Und es gibt deutlichen und von Applaus begleiteten Widerspruch gegen den Einsatz von holografischen Darstellungen virtueller Zeitzeugenschaft, die Rede ist von "Authentizitätssuggestion" [3].
Und es wird an ein Gedicht von Primo Levi „Ist das ein Mensch?“ erinnert [4], das er bereits 1947 geschrieben hat. Und gesagt: Wir Juden sollten uns keinen Illusionen hingeben... auch die Globalisierung der Erinnerung wird nicht helfen, auch das kollektive "Nie Wieder" wird seine Wirkung nicht wirklich entfalten können, das bleibt einem Jedem überlassen, da könne man noch so viele Festreden halten.
Ob da die Herzens-Bildung weiterhelfen würde? Nein: Es gibt kein Wundermittel, wie man aus "Erinnerung" "... bessere Menschen" machen kann.

Hier einige Auszüge aus dieser Rede:

Und ein Mitschnitt der sich daran anschliessenden Diskussion:

Anmerkungen

[1Hier ein Auszug aus der an diesem Tag formulierten Korrespondenz mit dem Bundespresseamt:

[2

Rede Dr. Merkel in Essen: 2020-01-21

[3Prof. Dr. Norbert Frei, Professor für Neuere und Neueste Geschichte der Universität Jena

[4vorgetragen von Prof. Dr. Natan Sznaider, Professor für Soziologie des Academic College Tel Aviv-Yafo


6651 Zeichen