Deutschland, Deutschland, in der Nacht...

VON Dr. Wolf SiegertZUM Samstag Letzte Bearbeitung: 16. August 2021 um 23 Uhr 03 Minutenzum Post-Scriptum

 

0.

Dieser nachfolgende Text reflektiert die heute in der Stadt Goslar gesammelten Erfahrungen, in denen sich Eindrücke aus einem Jahrtausend der Geschichte widerspiegeln. Sie haben zu einer fast schlaflosen Nacht geführt, so stark waren die Eindrücke. Aber warum? Was mag der Auslöser dafür gewesen sein, dass der Besuch von zwei "TouriHotspots" eine so nachhaltigen Einfluss ausgelöst hat?

1.

Es geht konkret um den Besuch der Kaiserpfalz und des Erzbergwerks Rammelsberg, die hier auch online über einen interaktive 360 Grad 3D-Rundgang entdeckt werden können

Die zwischen 1040 und 1050 errichtete Kaiserpfalz ist ein Muss für jeden Goslar-Besucher. Falls Sie noch keine Gelegenheit hatten, dieses einzigartige Denkmal weltlicher Baukunst "live" zu erleben, können Sie sich hier virtuell einen Eindruck verschaffen.

Das Erzbergwerk Rammelsberg ist als einziges Bergwerk der Welt kontinuierlich über 1000 Jahre in Betrieb gewesen. Zahlreiche thematische Führungen über und unter Tage lassen Bergbaugeschichte lebendig werden.

Und es geht um die wahrscheinlich bis zum Ende dieser Zeilen nicht im Kern zu beantwortenden Frage, wie, auf welche Art und Weise die Ausbeutung der Bodenschätze einerseits und der Menschen, die sie zutage gefördert haben, anderseits die Grundlage für das Wirken der Herrscherhäuser waren, die von diesen profitierten.

2.

Wie in der Ankündigung angeboten, wurde am Nachmittag die Möglichkeit wahrgenommen, mit weiteren 21 Personen auf dafür umgebauten Loren in einer 600 Millimeter-Schmalspurbahn bis hin zum Einstieg in den Förderkorb einzufahren. Eine beeindruckende Erfahrung, von der später noch mehr zu berichten sein wird.

Am Vormittag war der Besuch der Kaiserpfalz angesagt. Dort war die zur ‚Führungskraft‘ ausgebildeten Kunstgeschichte-Master-Studentin dazu verdammt, nicht mehr tun zu können als zu überprüfen, ob auch alle BesucherInnen ihre Maske richtig aufgesetzt hatten. Aber es gab eine hervorragend gemachte Multi-Media-Anwendung, die man sich auf sein Smartphone laden und dann mit deren Unterstützung mehr über dieses Gebäude, seine Geschichte und Gewerke, Gemälde und Geheimnisse zu erfahren.

3.

An diesem Punkt nun hätte die weitere Darstellung in einer mehr oder weniger gelungenen Zusammenfassung des Erlebten [1] fortgesetzt werden können, wenn da nicht gegen Ende der Führung unter Tage auf die in roter Farbe auf die Felswand geschriebene Jahr "992" hingewiesen worden wäre. Seit diesem Jahr, so hiess es, sei an diesem Ort mit dem Bergbau begonnen worden. Und ohne diesen hätte Goslar nie diese Bedeutung gewonnen, die sie über die Jahrhunderte hinweg geprägt habe. Mehr noch: "Ohne dieses Bergwerk hätte es die Kaiserpfalz so nie gegeben."

Dieser einfache Satz von diesem Mann im weissen Steigergewandt hat eine Wirkung gezeitigt, der an dieser Stelle noch weiter nachgespürt werden soll. Denn eines hat dieser schlichte Satz unmissverständlich deutlich werden lassen: Auch wenn all die über Generationen hinweg über und unter Tage beschäftigten Arbeiter vielleicht selbst nicht Geschichte geschrieben haben mögen, so hätte die Geschichte seit Anbeginn ihres Wirkens anders ausgesehen, wäre sie anders verlaufen.

4.

Was, wenn auch coronabedingt nicht jetzt, unter dem Titel Abenteuer Mittelalter: Der Rathstiefste Stollen angeboten wird, ist eine von vielen Möglichkeiten zu erfahren, wie die Arbeit am und im Bergwerk ausgesehen hat, welchen ungeheuren Strapazen, Belastungen und Gefahren sie ausgesetzt war. Und dass es dennoch für viele ein ’Glückhttps://www.rammelsberg.de/ueber-uns’ war, einen festen Arbeitsplatz mit einem regelmässigen, wenn auch geringen Einkommen erhalten zu haben. Selbst im Rahmen der an diesem Tag angebotenen Fahrt Mit der Grubenbahn vor Ort: Bergbau im 20. Jahrhundert wird unmissverständlich deutlich, was diese Arbeit „unter Tage“ konkret bedeutete.

5.

Wer sich auf der Webseite weiter umsieht, wird eine grosse und thematisch breite Palette an von Angeboten finden, sich diesem Ort - inzwischen Weltkulturerbe - und seiner Geschichte zu näheren. Und doch bleibt ein Aspekt aussen vor, der nach dem eigenen ersten Eindruck dennoch von hoher Bedeutung sein könnte. Die Frage nämlich, was konkret aus diesen Erzen gemacht, wofür sei eingesetzt wurden und von wem.

In der hier als Link eingeblendeten Webseite zum Weltkulturerbe heisst es:

Wohl schon im 3. Jahrhundert, lange vor der Gründung Goslars noch während der römischen Kaiserzeit, wurde hier Erz gefördert. Bis heute verließ die unvorstellbare Menge von 30 Millionen Tonnen Erz das Bergwerk Rammelsberg. [,,,] Die Geschichte der Stadt Goslar ist aufs engste mit der Geschichte des Erzabbaus verknüpft. Der Silberreichtum, der hier aus dem Berg geholt wurde, war Ausgangspunkt der 922 erstmals urkundlich erwähnten Stadt. Nicht von ungefähr ließ Kaiser Heinrich II. hier zu Beginn des 11. Jahrhunderts eine Kaiserpfalz einrichten.

Diese "Nicht von ungefähr" ist und bleibt eine Andeutung
 [2] der nachzugehen, sich lohnen würde, ja, die sogar geboten scheint, damit all den mystifizierenden Erklärungen der Geschichte der Deutschen Reiche und Kaiser endlich aus dieser allzu mythologisierten Welt auf die Füsse gestellt wird [3]. Die Fragen, die einem dabei durch den Kopf gehen, mögen zunächst reich aleatorischer Art sein: Wie hat das Kassenbuch eines der Herrscher ausgesehen, der mit dem ’Silbergeld’ nicht nur die Lohnarbeiter, sondern auch vielen andere hat bezahlen und finanzieren können, bis hin zur Kriegskasse? Warum heisst der "Erzfeind" Erzfeind, der "Erzrivale" Erzrivale?

6.

Wir machen uns auf die Suche und beginnen mit den Wikipedia-Artikel über Rammelsberg->https://de.wikipedia.org/wiki/Rammelsberg] und die Kaiserpfalz Goslar, die sich vor allem durch ihre Literatur- und Link-Verzeichnisse ausweisen. Und dann geht es zu der bereits oben zitieren offiziellen Webseire der Stadt Goslar. Fündig werden wir aber erst auf dieser Seite, wo zumindest zu lesen ist:

Etwa zu dieser Zeit ("zwischen 1013 und 1017" WS.) erlebt auch der Erzabbau am Rammelsberg eine erste Hochkonjunktur; im Mittelharz erreicht die Förderung von Roteisenerz zur Herstellung von Waffen und Werkzeugen ein „industrielles“ Ausmaß. Der Harz ist eine regelrechte „Rüstkammer des Reiches“. Solche günstigen Faktoren dürften auch den zweiten Salier Heinrich III. (1039 – 1056) dazu bewogen haben, die ältere Pfalz Heinrichs II. aufzugeben und den Neubau einer Pfalzanlage im 11. Jahrhundert auf dem heutigen Liebfrauenberg zu veranlassen.

7.

Wir hangeln uns durch viele weitere Adressen und Links durch, aber alle Anfragen wie: "die Finanzierung der Kaiserpfalz durch das Bergwerk" sind nicht weiter wirklich von Erfolg gekrönt. Stattdessen stossen wir im Archiv der Uni Heidelberg - einer der ältesten Universitäten überhaupt - auf den Aufsatz von Hubertus Kohle aus dem Jahr 2018 , der dort als PDF-File frei zur Verfügung steht:

Politisierung der Poesie - Mythos und Märchen in der Kunst des Deutschen Kaiserreichs
© Hubertus Kohle

Zu den auch heute noch bekannten, weil an prominentem Ort präsentierten Werken gehören die Fresken des der Düsseldorfer Maler­schule zugehörigen Hermann Wislicenus im Kaisersaal der Goslarer Pfalz, die er dort seit 1877 realisierte. Der Ort selbst bot ein Höchstmaß an romantischem Projektionspotenzial, repräsentierte er doch als Bau des Mittel­alters eine Zeit, in der Deutschland noch ungeteilt und mächtig war: Die Pfalz galt als größter Profanbau seiner Zeit und diente im 11. Jahrhundert vor allem den salischen Kaisern als Aufenthaltsort [...] Der umfangreiche Gemäldezyklus erinnert in seinem zentralen Teil an Hauptepisoden der mittelalterlichen Kaisergeschichte, wobei die späte, von den Habsburgern dominierte Phase aus Gründen, die mit der zeitgenössi­schen Wirklichkeit zu tun hatten, weggelassen wurde.

Die Lektüre dieses Textes ist wirklich eine Empfehlung wert, zumal er - gerade mit Bezug auf die ’märchengeschwängerte’ Harzregion - darauf hinweist, in welchem Masse die Geschichtsschreibung mit einer Mythisierung der Historie in Verbindung steht. So erwachen in der Höhle des Kyffhäusergebirges je nach politischer Ausrichtung der preussennahe Friedrich Barbarossa wieder zum Leben (oder aber in anderen Erzählungen Karl der Große, um das grossdeutsch-österreichische Reich wiederentstehen zu lassen).

Gewiss, auch dieser Text sagt nichts darüber aus, mit welchen Mitteln des Bergwerkes welche Taten der politischen Herrschaft finanziert wurden, aber er macht klar, in welch ungeheurem Ausmass die Geschichte als eine Geschichte der herrschenden Persönlichkeiten geschrieben und von der Kunst ’parteilich’ in Szene gesetzt wird. [4].

8.

Der ’Kitt’ der die Welt im innersten zusammenhält, wird schon in Goethes Faust I, vor allem aber im Faust II, sehr klar und deutlich als jene Macht der wirtschaftlichen Nutzung - sprich Ausbeutung - zur Darstellung gebracht. Aber es sollte nicht einer Sarah Wgenknecht vorbehalten bleiben, auf einen solchen Zusammenhang hinzuweisen [5]. Andererseits lassen sich so auf Anhieb kaum Quellen finden, die uns wirklich weiterbrächten. Das einzige Dokument, in dem das Thema des Bergbauss mit den politischen Ereignissen verknüpft wurden, stammt aus dem Historischen Institut der Uni Dortmund und bezieht sich auf eine Harz-Exkursion vom 17.-22. September 2000 von E.M. Butz und A. Zettler, aber selbst dort findet sich kein einziger Hinweis auf soziale Unruhen, Streiks oder andere Anzeichen des Widerstandes gegen die Ausbeutung der Bergleute:

Christian Düntgen ; Geschichte des Bergbaus im Harz

Was bleibt, das sind die Erinnerungen an den Kapp-Putsch und den Ruhrkampf in den zwanziger sowie die Streikaurufe der Ruhr-Bergarbeiter in den sechziger Jahren, die vom Spiegel damals mit "Zur Sonne" besprochen wurden.

9.

Wohl wissend, dass diese Übertragung aus dem Russischen mit "zur Sonne" nichts mit dem Heraustreten aus den Schächten ans Tageslicht zu tun hat, bleibt die Frage, wie sich diese ungeheure Leistungsfähigkeit und Herausforderung der Kumpels konkret auf den Wohlstand der Eigentümer und Betreiber der Zeche ausgewirkt hat.

Dass heute am Vormittag der Besuch des "Imperial Palace", wie es im Englischen heisst, und gleich darauf am Nachmittag des Bergwerks Rammelsberg stattgefunden hat, war eine geniale Eingebung der ’Reiseleitung’. Und doch war wohl niemandem von uns wirklich gegenwärtig, welche Zusammenhänge es zwischen diesen beiden Orten der politischen Repräsentanz einerseits und ihrer Finanzierung andererseits gegeben hat.

Anstatt irgenwelcher Andenken wurde im "Kaiserpfalz Shop Goslar" der zweite Band der Reklamausgabe der "Deutsche(n) Geschichte in Quellen" erworben und im weiteren Verlauf des Tages immer und immer wieder kursorische befragt. Dabei traten so manche verlorgengegangenen oder nie erworbenen Kenntnisse wieder zum Vorschein: So die "Wiederzulassung Bremens zur Hanse (1358) (S. 232), ein Datum, das darauf aufmerksam macht, dass das Bremer Wappen ganz prominent am Hauptgewölbe des Palais aufgehangen worden war.

So die Ausweisung der Juden aus der Stadt Köln (S.347) und die zuvor stattgefundenen Massaker, als man ihnen vorwarf, die Brunnen vergiftet zu haben, denn das sei der tiefere Grund für die in ganz Mitteleuropa seit 1348 ausgebrochenen Post gewesen... So die immer wieder neuen Allianzen zwischen der Politk und der Wirtschaft, die nach dem heiligen röischen Reich und dem Kaiserreich in dem inzwischen so genannten "Dritten Reich" einen neuen Höhepunkt gefunden hatte [6]

10.

Kurz und gut, es sollte an dieser Stelle eigentlich nur aufgezeigt und angemerkt werden, wie wenig wir letztendlich aus der Geschichte "unseres Landes" kennen, und wie es dazu kommen kann, dass so ein "Touritag" bis in die Nacht hinein so viele Assoziationen auslöst.

Beide hier besprochenen Orte sind nach allen Regeln der Offline- wie Online-Kommunikation ins beste Licht gestellt worden und bieten vielerlei Anlass zur nochmaligen Teilhabe an dem jeweiligen historischen Geschehen. Dass für die Verarbeitung all dessen der nachfolgende Sonntag dran glauben musste, war so weder geplant noch beabsichtigt - aber auch das ist letztendlich ein gutes Zeichen für die An- und Aufnahme des Dargebotenen.

P.S.

Dieser Text entstand am Sonntag in einem Dank eines Upgrades grosszügig ausgestatteten Hotel--Zimmer nach einem ebenso reichhaltigen wie gesunden Frühstück, das leider auch an einem Sonntag bis spätestens 10:30 Uhr eingenommen werden musste. Der ’Vorteil’, dass dadurch genug Zeit zum Verfassen dieses Textes blieb. Was auch möglich war, wenn man denn akzeptierte, die Bedingungen eines offenen W-LAN-Anschlusses zu akzeptieren, ohne dass diese hätten eingesehen oder geprüft werden können:

Anmerkungen

[1Siehe auch die NDR-Reportage aus dem Jahr 2020.

[2Es gibt auch viele andere Textfundstellen, die auf diesen Zusammenhang hinweisen, wie unter anderem diese hier:

Als „Schatztruhe der deutschen Kaiser“ gilt bis heute der nahe Goslar gelegene Rammelsberg. Denn unter ihm verbarg sich einst eine der größten zusammenhängenden Blei-, Zink- und Kupfererzlagerstätten der Welt.

[3Dabei mag es durchaus sein, dass dieses bereits geschehen und in den vorgegebenen Zeitrahmen nicht wahrgenommen wurde, aber selbst in einem solchen Fall wäre dieses ein Plädoyer dafür, diesen Zusammenhang mehr in den Scheinwerfer des öffentlich gemachten Interesses zu rücken. WS.

[4Wobei es noch anzumerken gilt, dass der Maler nach mehr als zwanzig Jahren an diesem seinem Hauptwerk mit einem billigen Orden abgespeist wurde, da er zu Beginn seiner Arbeiten den egozentrischen Herrscher noch als Kindsfigur in der Obhut seiner Mutter abgebildet hatte. Und, dass sein Grab hierzulande und heutzutage ganz und gar ungepflegt keinerlei Beachtung mehr erfährt.

[5

Faust – Goethes Faust – ist ein altersgeiler Gelehrter und Kinderschänder, der eine Vierzehnjährige verführt, schwängert und ihrem Schicksal – dem Henkersbeil – überlässt. Nach allerlei eher halbseidenen Auftritten in der abendländischen Geschichte gewinnt er durch Tricksereien politische Macht. Seine letzte Tat ist die Ermordung eines alten Ehepaars, das einem großflächigen Bauprojekt im Wege ist.

.

[6In einem ketzerischen Ausblick auf die Bundestags- und Landtags-Wahlen im September 2021 kam die Frage auf, ab wann die AfD für ein neues viertes Reich werben würde...


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