Pressefreiheit! Der hehre Anspruch und die bittere Wirklichkeit

VON Dr. Wolf SiegertZUM Samstag Letzte Bearbeitung: 5. Mai 2025 um 13h28minzum Post-Scriptum

 

Im Folgenden zitieren wir einen Text der Autorin Maria Savushkina [1], der heute ab 07:00 Uhr online auf der Seite des Tagesspiegels veröffentlicht und als solcher auch in der Wochenend-Ausgabe der Print-Version angekündigt wurde.

In dieser ins Deutsche übertragenen Online-Version sind zusätzlich eine Reihe von Links eingefügt worden, die dort abgerufen werden können [2].

Exiljournalistin aus Belarus: Wo ist der nächste Luftschutzkeller?

„Wir kommen euch holen“: Maria Savushkina ist zweimal geflohen, aus Belarus und aus der Ukraine. Und hat dabei viel gelernt – über Menschen und Drohnen.

Maria Savushkina auf Bahnsteig
© privat

Ich bin zweimal geflohen: zuerst 2021 aus Belarus in die Ukraine, als unserem Medienteam in Minsk die Verhaftung drohte, und dann nach Beginn des Krieges aus der Ukraine. Durch diese dramatischen Erfahrungen habe ich aus erster Hand erfahren, wie Unterdrückung und Krieg einen Menschen verändern können.

Im Jahr 2021 war ich als Produzentin für das bahnbrechende belarussische Startup ChinChinChannel tätig, das sich auf politische Satire spezialisiert hat. Unsere kurzen Videos und lustigen Sketche – mit zwei Beamten im Stile der UdSSR, die versuchen, absurde Propagandanachrichten zu verbreiten – wurden bereits hunderttausendfach aufgerufen.

Aber nicht nur unser Publikum hat die Witze verstanden, auch das für politische Verfolgung und Zensur zuständige Außenministerium nahm sie zur Kenntnis. Agenten folgten uns zu unseren Treffen und filmten uns in der Öffentlichkeit.

Schließlich erschien auf einem Telegram-Kanal, der mit der Abteilung für die Bekämpfung der organisierten Kriminalität und der Korruption verbunden ist, eine Drohung gegen uns mit Fotos von einem Auftritt von ChinChin: „Seid bereit, wir kommen euch holen ...“

Angst vor Männern in schwarzer Kleidung

Selbst jetzt, wo ich schon ein paar Jahre in Berlin lebe, habe ich immer noch Angst vor Anrufen von unbekannten Nummern, vor Autos – vor allem Minivans mit getönten Scheiben – und vor Männern in schwarzer Kleidung, die mir folgen.

Um die Videoproduktion fortzusetzen, beschlossen wir, nach Lviv in der Ukraine zu ziehen.

An einem Adventssonntag besuchte ich einen Gottesdienst. Am Ende des Gottesdienstes rief der Pfarrer die Gemeinde zu einer Spende auf und verkündete, dass die Kirche Geld sammelt, um … eine Drohne zu kaufen. Ich war überrascht – nicht für wohltätige Zwecke oder für die Bedürfnisse der Kirche wurde gesammelt, sondern für eine Drohne.

Eine der jungen Frauen in der Gemeinde erzählte von ihrem Bruder, der an der Front in der Ostukraine diente. Sie erklärte, dass ihr Bruder sonst in großer Gefahr sei, da die Soldaten auf Drohnen angewiesen seien, um russische Angriffe vorherzusehen und sich darauf vorzubereiten.

Bei diesem Gottesdienst wurde Geld gesammelt, und auch ich habe gespendet. Aber ich begann mich zu fragen: War der Krieg wirklich so weit weg?

Die nächsten Monate brachten die Antwort. Ende 2021 war der Krieg näher an die Ukraine herangerückt als je zuvor.

Seitdem ich im Ausland lebe, habe ich gelernt, genau darauf zu achten, was die Menschen brauchen und wofür sie Geld spenden. Diese Bedürfnisse können einen Vorgeschmack darauf geben, was die Zukunft bringt.

Zwei Monate später begann die militärische Invasion in vollem Umfang. An diesem Tag wachte ich um 5 Uhr morgens zum Geräusch der Sirenen auf.

Plötzlich wurde mir klar, dass sich meine Wohnung in Lviv direkt in der Nähe des einzigen Militärstützpunkts der Stadt befand. Im Falle eines Raketenangriffs wäre er das Hauptziel.

Die andere beunruhigende Erkenntnis war, dass ich nicht wusste, wo sich der nächste Luftschutzkeller befand. Es war jedoch eine Erleichterung zu erfahren, dass meine Kollegen – vor allem diejenigen mit Kindern – schnell einen Unterschlupf in der Nähe ihrer Häuser gefunden hatten.

Nur mit Koffer und Rucksack im Flüchtlingszug

Jetzt beobachte ich meine Umgebung genau und sorge dafür, dass ich immer weiß, wo der nächste Luftschutzkeller ist – für alle Fälle ...

Am Tag nach Kriegsbeginn verließen wir alle unsere Wohnungen und baten einheimische Kollegen, sich um unsere Sachen zu kümmern. Am Abend des 26. Februar 2022 stand ich am Hauptbahnhof von Lviv inmitten einer Menschenmenge und wartete auf einen Flüchtlingszug nach Przemyśl in Polen, nur mit einem Koffer und einem Rucksack. Meine Sachen sind immer noch dort.

Maria Savushkina am 26. Februar 2022 auf dem Hauptbahnhof von Lviv.
© privat

Kurze Zeit später, als ich in einem kleinen Dorf in Norddeutschland lebte, brauchte ich neue Schuhe. Ich erinnere mich, wie ich in ein Geschäft ging, ein Modell anprobierte, das mir gefiel, und plötzlich feststellte, dass ich das gleiche Paar bereits besaß – in Lviv, bei meinen zurückgelassenen Sachen. Also habe ich sie nicht gekauft. Ich brauche ja nicht zwei identische Paar Schuhe.

Aber in Wirklichkeit hatte ich sie nicht mehr.

Seitdem habe ich die harte Realität des Lebens als Flüchtlings kennengelernt: Ich habe nur das, was ich in diesem Moment besitze – was ich jetzt gerade benutzen, tragen oder essen kann.

Seit mehr als drei Jahren lebe ich nun in Deutschland. Auf den ersten Blick scheint nichts in meiner Umgebung Erinnerungen an den Krieg oder die einschneidende Erfahrung, ein Flüchtling zu sein, hervorzurufen.

Aber eines Tages im März las ich einen Bericht über eine Presseerklärung der Präsidentin der Europäischen Kommission von der Leyen über das Verteidigungspaket: Sie wird den Mitgliedstaaten 150 Milliarden Euro an Darlehen für Verteidigungsinvestitionen zur Verfügung stellen. Wir sprechen hier von gesamteuropäischen Fähigkeitsbereichen. Zum Beispiel: Luft- und Raketenabwehr, Artilleriesysteme, Raketen und Munition, Drohnen und Anti-Drohnen-Systeme …

Drohnen? Moment mal! Ich habe das schon einmal gehört und die Lektion gelernt: Wenn du Geld für eine Drohne spendest, vergiss nicht herauszufinden, wo der nächste Luftschutzkeller ist.

P.S.

I.

Alle TAGESSPIEGEL-Artikel in „Leben & Welt“ vom 03.05.2025

Projekt „Stimmen des Exils“

Zum Internationalen Tag der Pressefreiheit 2025 veröffentlichen wir Berichte von Exiljournalist:innen aus einer Vielzahl von Ländern: Russland, Belarus, Afghanistan, Uganda, Ruanda, der Türkei, Iran und Ägypten.

Dieser Text ist Teil des Projekts „Stimmen des Exils“ von Tagesspiegel und Körber-Stiftung. Alle Texte von Exiljournalist:innen aus diesem und früheren Projekten finden Sie auf unserer Themenseite.

Die Körber-Stiftung engagiert sich auf vielfältige Weise für Exiljournalist:innen, unter anderem mit dem „Exile Media Forum“. Einmal im Jahr lädt die Stiftung über 100 Medienschaffende im Exil, Vertreterinnen und Vertreter aus Politik und von Hilfsorganisationen nach Hamburg ein, um Zukunftsfragen zu diskutieren, Erfahrungen auszutauschen und sich zu vernetzen.

Das nächste Exile Media Forum findet im November 2025 in Hamburg statt.

II.

Als Hintergrund dieser Beitrag von Nina Landhofer aus der Reihe von BR24 Medien vom 2. Mai 2025, zusammen mit Anne Lena Mösken, stellvertretende Chefredakteurin der Freien Presse, mit Anja Osterhaus, der Geschäftsführerin von Reporter ohne Grenzen. mit Andreas Lamm vom Europäischen Zentrum für Presse- und Medienfreiheit in Leipzig, zu der Frage: Pressefreiheit: Wie können wir sie retten?.

Anmerkungen

[1

Die Autorin

© privat

Maria Savushkina ist eine belarussische Journalistin und Medienmanagerin im Exil, die in Berlin lebt. Sie verfügt über mehr als 20 Jahre Erfahrung in der Medienbranche in Belarus und Osteuropa, einschließlich Polen, Litauen und der Ukraine. Sie kam 2022 nach Deutschland und ist die Gründerin und Leiterin der NGO The Free Media Center, die 2024 in Berlin registriert wurde. Die NGO widmet sich der Unterstützung von Exilmedien, der Bekämpfung von Propaganda und der Förderung der Meinungsfreiheit.

[2An dieser Stelle der Verweis auf einige Links, in denen auf dieser Plattform bereits seit 2022 auf das Thema, die Autorin und ihre Arbeit hingewiesen wurde:
 am 28. August 2022:
""Chin Chin"
 am 28. September 2022:
"Onboarding Berlin, Germany: from Exile to Execution"
 am 15. Januar 2023:
"Anstatt eines Sonntags-Fotos: DER Film"
 am 5. Februar 2023:
""Chin Chin" Makers in Bewegt-Bildern & -Tönen aus Berlin"
 3. Mai 2023:
"MTM 2023: "ARD","KEF","ÖRR","rbb", ... : Pressefreiheit!"
 am 3. Mai 2024:
"Presse-Buch-Gala-Film-Tag "


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